Sachbuch: "Krieg. Wie Konflikte die Menschheit prägten":Habgier, Furcht, Ideologie

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Warum sind Menschen fähig, einander zu töten? Schulkind im kriegszerstörten Raqqa in Syrien. (Foto: Delil Souleiman/AFP)

Margaret MacMillan durchstreift mehr als 10 000 Jahre Menschheitsgeschichte auf der Suche nach den Gründen für Krieg. Spoiler: Es werden nicht weniger.

Von Thomas Speckmann

Krieg. Das steht im heutigen Deutschland derzeit vor allem für Vergangenheit, zumindest auf dem eigenen Boden. Außerhalb der Landesgrenzen ist Krieg jedoch weiterhin Alltag in der Welt - seit den Neunzigerjahren auch mit deutscher Beteiligung. Und dennoch oder gerade deswegen tut man sich in Deutschland schwer, Krieg zu verstehen. Schließlich möchte man ihn am liebsten abschaffen, am besten ganz verbieten. Sinnvoll wäre dies zweifellos, aber ist es realistisch? Was, wenn Krieg zum Menschen an sich dazugehört?

Zu dieser Erkenntnis muss man geradezu kommen, wenn man Margaret MacMillan durch die Geschichte folgt. Die kanadische Historikerin zählt zu denen, nach deren Auffassung Menschen seit jeher dazu neigen, sich gegenseitig auf organisierte Weise anzugreifen - also Krieg zu führen. Für MacMillan leitet sich daraus die Frage ab, warum Menschen bereit und fähig sind, einander zu töten. Für sie ist das mehr als eine intellektuelle Fingerübung: Wenn man nicht verstehe, warum Menschen kämpfen, könne man kaum darauf hoffen, künftige Konflikte zu vermeiden.

Theorien zu dieser Frage gibt es zwar bereits viele, wie auch MacMillan einräumt. Aber es mangelt bislang an einhelligen Antworten - mit dieser Bewertung liegt MacMillan ebenfalls richtig. Und so nennt sie zunächst die gängigen Erklärungen: Krieg als Folge von Habsucht oder Konkurrenz um schwindende Ressourcen wie Nahrung, Territorium, Geschlechtspartner oder Sklaven. Krieg als Folge biologischer Bande und gemeinsamer Kultur, die dazu führen, die eigene Gruppe - ob Clan oder Nation - zu schätzen und andere Gruppen zu fürchten.

Schaltet der Mensch also wie sein Verwandter, der Schimpanse, instinktiv auf Angriff um, sobald er sich bedroht fühlt? Führt der Mensch also Krieg, weil er nicht anders kann, oder aufgrund seiner Ideen und kulturellen Einstellungen? Fragen, die MacMillan zu Recht noch einmal neu aufwirft, da Krieg und Kriegsangst bislang auch eine Konstante im 21. Jahrhundert darstellen.

Der Krieg hat sich perfektioniert, als die Menschen sesshaft wurden

Auf der Suche nach weitergehenden Antworten beleuchtet MacMillan grundlegende Phänomene der Kriegsgeschichte wie den empirischen Befund, dass die Menschen im Führen von Kriegen "gut" wurden, sobald sie organisierte Gesellschaften schufen. MacMillan erkennt hier parallel verlaufende Entwicklungen: Der Krieg - definiert als organisierte, zweckgerichtete Gewalt zwischen politischen Einheiten - habe sich perfektioniert, als die Menschen organisierte sesshafte Gesellschaften zu gründen begannen. Gleichzeitig habe der Krieg seinerseits dazu beigetragen, ebendiese Gesellschaften noch organisierter und mächtiger zu machen.

MacMillan erinnert daran, dass es "erst" 10 000 Jahre - "ein Wimpernschlag in der Menschheitsgeschichte" - her ist, dass ein Teil der Menschen begann, sich niederzulassen und zu Bauern zu werden - und in ebendieser Zeit wurde der Krieg systematischer und erforderte eine spezielle Ausbildung und eine eigene Kriegerkaste. Diese Parallelität spiegelt sich auch in einer weiteren Entwicklung, die MacMillan beobachtet: Mit der Entstehung der Landwirtschaft waren die Menschen stärker an einen Ort gebunden und besaßen mehr, das wert war, geraubt - und verteidigt - zu werden. Und um sich selbst zu verteidigen, benötigten sie wiederum eine bessere Organisation und mehr Ressourcen, was dann dazu führte, dass Gruppen entweder friedlich oder aber durch Eroberung ihr Territorium und ihre Bevölkerung vergrößerten. In der Tat lässt sich dieser Trend bis ins 21. Jahrhundert hinein verfolgen - mit dem Cyberraum als einer zusätzlichen Dimension von Territorium, das in einem bereits begonnenen digitalen Weltkrieg täglich tausendfach angegriffen und verteidigt wird.

Ukrainische Soldaten in der Schlacht bei Lugansk: Russlands Präsident Wladimir Putin begann 2014 den Krieg gegen das Nachbarland, um von innenpolitischen Problemen abzulenken. (Foto: Ivan Boberskyy/dpa)

Als ein weiteres Paradox des Krieges beschreibt MacMillan, dass dieser zwar seit Langem integraler Bestandteil menschlicher Erfahrung ist und die Zunahme der Staatsmacht und die Entstehung immer größerer Staaten häufig das Ergebnis von Kriegen sind, aber diese ihrerseits wieder Frieden schaffen können. Auch bei der Frage nach der Macht von Staaten an sich sieht MacMillan eine maßgebliche Rolle des Krieges beziehungsweise der Androhung von Gewalt, die ein Staat gegen innere wie äußere Gegner anwenden kann. Als Belege dienen ihr hier beispielsweise das Aufkommen staatlicher Polizeikräfte in großen Teilen der westlichen Welt und Asiens im 19. Jahrhundert, das Banditentum und niederschwellige Gewalt zunehmend eindämmte. Oder noch grundlegender in Europa das Ende feudaler Warlords, als die Monarchien ausreichend staatliche Kräfte versammeln konnten, um Privatarmeen zu zerschlagen und Privatfestungen zu zerstören.

Und bis in die unmittelbare Gegenwart gilt mit Blick auf Großmächte und Weltmächte: Erfolgreiche Kriege gegen äußere Gegner werden häufig genutzt, um die Autorität des Staates zusätzlich zu legitimieren und zu stärken. Dieses sich durch die Jahrhunderte ziehende Verhalten wertet MacMillan für demokratisch gewählte wie für diktatorische Regierungen gleichermaßen als attraktiv, um "große Siege" als Gütesiegel und Zeichen ihrer Leistungsfähigkeit zu präsentieren.

Manchmal finanzieren sich Kriege selber - durch Beute

In diesem Kontext sind nicht zuletzt auch die wiederholten Wiedervereinigungsdrohungen von Chinas Staatschef gegenüber Taiwan zu sehen. Je schwächer das Regime von Xi Jinping im Innern wirkt angesichts einer Schuldenlast von inzwischen 300 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung der neuen Weltmacht und eines durch diese finanzielle Überdehnung drohenden Bruchs des Versprechens der permanenten Wohlstandsmehrung gegenüber dem eigenen Milliardenvolk, desto stärker könnte die Versuchung sein, durch einen Eroberungskrieg von in Zukunft nicht unwahrscheinlichen Wachstumseinbußen abzulenken. Ein Verhaltensmuster, das bereits den Angriffskrieg von Putins Russland gegen die Ukraine seit 2014 prägt. Bei MacMillan kann man lernen, warum derlei Denken und Handeln sich über die Jahrhunderte nicht wirklich verändert haben und bis heute regelmäßig wiederkehren.

Margaret MacMillan: Krieg. Wie Konflikte die Menschheit prägten. Aus dem Amerikanischen von Klaus-Dieter Schmidt. Propyläen Verlag, Berlin 2021. 381 Seiten, 30 Euro. (Foto: N/A)

Ein weiterer Grund für diese Konstanten ergibt sich aus der Beobachtung von MacMillan, dass Kriege sich manchmal selbst finanzieren können, vor allem durch Beute beim Gegner. Auch hier geht sie durch die Jahrtausende: Alexander der Große nahm den Persern gewaltige Reichtümer ab. Die Spanier finanzierten ihre Kriege in Europa überwiegend durch das Gold und Silber der besiegten Azteken und Inka. Das Deutsche Reich ließ Frankreich nach der Niederlage von 1871 finanziell bluten und erleichterte Russland 1918 im Vertrag von Brest-Litowsk um Rohstoffe und Goldreserven. Die finanzielle Revanche der Alliierten folgte dann in Versailles.

Nach all diesen Erfahrungen aus der Geschichte des Krieges sagt MacMillan ihm auch eine Zukunft voraus - angetrieben von den zu ihm führenden Faktoren, die heute genauso existent sind wie früher: Habgier, Furcht, Ideologie. Für zusätzlichen Zündstoff künftiger Kriege hält sie Folgen des Klimawandels wie den Kampf um knapper werdende Ressourcen oder Massenmigration, die zunehmende Polarisierung der Gesellschaften, den Aufstieg eines intoleranten nationalistischen Populismus und die Bereitschaft messianischer und charismatischer Führer, diese Gemengelage für sich zu nutzen. Und so sollte MacMillan dem Imperfekt in ihrem Buchtitel "Wie Konflikte die Menschheit prägten" ein Präsens und ein Futur an die Seite stellen - leider.

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