Wer gleich einwendet, Autorennen seien eine besonders primitive Erscheinung menschlichen Wetteifers, hat seine Gründe. Und er befindet sich in guter Gesellschaft mit Thomas Bernhard. Der Österreicher hielt den Automobilrennsport für abstoßenden Stumpfsinn, wohingegen sein verehrter Freund, der depressive Musikliebhaber Paul Wittgenstein, laut Bernhards Erzählung "Wittgensteins Neffe" ein "leidenschaftlicher Automobilrennsportfanatiker" war, dem "der Lärm der ihren mörderischen Kurs rasenden Automobile eine ebensolche Musik in den Ohren gewesen ist" wie Beethovens Streichquartette und Mozarts Haffner-Sinfonie. Sollte man also nicht allem eine Chance geben, auch dem Automobilrennsport?
Die Netflix-Dokumentation "Fangio - der Mann, der die Maschinen zähmte" ebnet den Weg in diese abgefahrene Welt. Der Argentinier Juan Manuel Fangio, geboren 1911, viermal Weltmeister in den 1950ern, gibt den idealen Helden ab dafür. Seine Epigonen in den Formel-1-Cockpits - reihenweise kommen hier Weltmeister zu Wort - verehren ihn wie einen Heiligen. Und was wäre eine Doku ohne wissenschaftliches Fundament: Die Uni Sheffield erforschte anhand aller verfügbaren Daten von Strecken, Motoren und Wetterbedingungen, wer unter allen Rennwagen-Weltmeistern der beste Fahrer gewesen sei: Fangio.
Die Maschinen, die Fangio zähmte wie kein Zweiter, sehen aus wie Seifenkisten auf zwei Achsen. Der Motorrennsport steckte in seinen Anfängen. Wo die Piloten heute Helme und Schutzanzüge tragen, düsten Fangio und seine Kontrahenten im kurzärmeligen Hemd mit einer eierschalenähnlichen Kopfbedeckung und Fliegerbrille in die Kurven. Es gibt Aufnahmen, auf denen er mit seiner hohen Stirn Thomas Bernhard ähnelt.
Manchmal bremste er mitten im Rennen, damit der Motor ein wenig abkühlen konnte
Die tollkühnen Pioniere brachten ihre Kisten auf Geschwindigkeiten von 300 Kilometern pro Stunde. Bremsen, Kuppeln, Lenken - das war Schwerarbeit. Wo heute ganze Teams aus Ingenieuren in der Box stehen und die Boliden trimmen, schraubten Fahrer wie Fangio noch selbst. Und manchmal bremste er mitten im Rennen absichtlich, damit der Motor ein wenig abkühlen konnte. Andere, denen es am Gespür für die Maschine und ihre physischen Grenzen gebrach, schieden oft kurz vor Schluss mit Motorschaden aus. Heute, sagt einer der Epigonen in der Doku von Rodrigo H. Vila und Luciano Origlio, komme es auf Präzision und Effizienz an - damals aber seien erfolgreiche Fahrer eher Künstler gewesen.
Der Automobilrennsport bekommt durch die sagenhafte Figur Fangio eine Aureole, wie sie um das Boxen durch Muhammad Ali entstanden ist und wie sie um den Fußball mit seinen Stars strahlt, Pelé, Maradona, Gerd Müller. Solche Draufgängerfiguren machen sportliche Wettkämpfe zu Legenden und manchmal sogar zu historischen Ereignissen. Bei Fangio, dem Rennfahrer, kommen Aphorismen hinzu, die ihn fast zu einem argentinischen Nationalphilosophen machen. "Man sollte immer versuchen, der Beste zu sein", sagt er als ergrauter Veteran in einem Interview, "aber man sollte nie glauben, man sei der Beste." Fangio, der Grandseigneur, widerlegt alle, die behaupten, Rennsport sei ein Vergnügen ausschließlich für Proleten.
Zweifellos war der Rennsportzirkus dramatischer damals. Jedes Jahr gab es mehrere Tote. Auch Fangio hatte Unfälle. "Mir wurde klar, wie leicht es wäre zu sterben, ohne dass man es merkt", sagt er. Fangio fuhr noch ein paar Jahre weiter. Mit vier verschiedenen Rennställen, darunter Mercedes, wurde er fünfmal Weltmeister. Zum Titel 1956 verhalf ihm sein englischer Kollege Peter Collins. Als er sah, dass Fangios Auto mit defekter Lenkung ausfiel, stieg er aus und überließ seinen Wagen Fangio. "Juan Manuel ist nun 45 Jahre alt. Wer weiß, wie viele Chancen er noch erhalten wird, um einen Titel zu holen. Ich habe noch das ganze Leben vor mir, schließlich bin ich erst 24", sagte Collins. Er verunglückte zwei Jahre später tödlich am Nürburgring.
Da hatte Fangio gerade aufgehört. Mitten in einem Rennen kamen ihm seine Eltern in den Sinn. Sie waren schon alt, und er wollte sie nicht länger um sein Leben bangen lassen, Rennen für Rennen. Also flog er nach Hause, nach Argentinien. Fangio wurde 84 Jahre alt. Nicht alle Guten sterben jung.