Klassik:Das Glück sitzt im Auditorium

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Petrenko spielte Tschaikowsky und Rachmaninow und nahm so dem historischen Ereignis alles Schicksalshafte und Symbolüberlastete. (Foto: Stephan Rabold; Berliner Philharmoniker)

Berlin geht voran. Nach einem Jahr in der Zwangspause traten die Philharmoniker vor 1000 Zuhörern auf. Kirill Petrenko gab als Dirigent den größten der Aufpeitscher.

Von Reinhard J. Brembeck

"Das machen wir hier für den Gesundheitsschutz." Klaus Lederer, der Berliner Kunstsenator, steht in der Philharmonie der Stadt, um ihn herum auf den Rängen 1000 Menschen, fast die Hälfte der Plätze ist also belegt. 1000 Menschen in diesem Raum, viele junge Menschen, viele Frauen, viele festlich gekleidet, und das in Seuchenzeiten! Auch wenn der Linken-Politiker Lederer stürmisch gefeiert wird für seine Kurzansprache, so ist doch niemand gekommen, um ihn zu hören. Die Menschen sind auch nicht so sehr gekommen wegen der in großer Besetzung und eng das Halbrund der Bühne füllenden, mit Johlen empfangenen Berliner Philharmoniker und deren Chefdirigenten Kirill Petrenko. Sie sind gekommen, weil die Berliner Politik ein Wunder ermöglichte - das seltene Wunder, dass viele Menschen zusammenkommen, um Kunst gemeinsam live zu erleben, auf dass sie mit geweitetem Herzen und angeschärfter Fantasie besser durch die Zeiten kommen.

Das Konzert ist Teil eines Berliner Pilotprojekts

Das Konzert der Philharmoniker ist das erste, das das Orchester vor Ort nach mehr als einem Jahr vor Publikum spielen darf. Es ist der prominenteste Teil eines Pilotprojekts, das vom Berliner Ensemble eröffnet wurde, es folgen Konzerte, die Volksbühne und die Deutsche Oper sind dabei, und natürlich darf auch Daniel Barenboim nicht fehlen, der in einer Woche Mozarts "Figaro" dirigiert. Wer als Zuhörerin, als Zuschauer kommt, muss sich am gleichen Tag schnelltesten lassen, am Eingang werden Eintrittskarte, Personalausweis, Testergebnis vorgezeigt. Das ist aufwendig, kostenintensiv und zeitraubend, erfordert viel Personal. Berlin verlangt für einen Schnelltest 40 Euro, aber wer ein Ticket hat, darf sich umsonst das Wattestaberl in den Rachen stecken lassen. Trotzdem sitzen alle 1000, der Klassikfreund und CDU-Politiker Wolfgang Schäuble ist dabei, pünktlich im Saal.

Aber ist das nicht ein unverantwortlicher Blödsinn? Gerade jetzt, wo die englische Mutante und die Öffnungen die allein unselig machenden Inzidenzzahlen in die Höhe treiben? Lederer geht auf diesen Vorwurf ein, deshalb spricht er von "Gesundheitsschutz". Das Berliner Projekt versuche eine Möglichkeit zu finden, wie Livekunst unter Seuchenbedingungen sinnvoll durchgeführt werden kann. Mag sein, dass das Pilotprojekt nicht gleich Standard wird, weil die Zahlen zu hoch, die Impfungen zu wenige, die Politikerunvernunft zu groß sind. Aber wenn es die Situation zulässt, kann man aufgrund dieses Pilotprojekts leichter wieder Livekunst ermöglichen. Dann könnte sogar das so fantasielose Bayern (Zusperren!) mal von den ungeliebten Berlinern profitieren.

Den ganz großen Skeptikern sei gesagt, dass die Lüftung der Scharoun-Philharmonie, Lederer weist darauf hin, mehr als gut ist. Auch sitzt man in der Philharmonie, anders als in den vollgestopften Aeroplanen, sicherheitsabständig locker. Nicht zu vergessen die vielen Studien, die den Konzertsälen und Theatern bescheinigt haben, dass sie keine Seuchentreiber sind, dass da fast gar nichts passieren kann, nicht zu vergessen die vielen mit bis ans Masochistische grenzender Fantasie erarbeiteten Sicherheitskonzepte. All das hat wenig geändert an dem Berufsverbot für eine in die Millionen gehende Menschgruppe. Doch Gott sein Dank gibt es Berlin!

Die Kontrabassisten sitzen schon, dann kommen die anderen Musiker, kommt Petrenko, wie immer lachend gutlaunig und leicht verschämt. Dieser in Russland geborene und ausgebildete und später in Österreich (musikalisch) sozialisierte Großmeisterdirigent mit jüdischen Wurzeln bietet häufig raffiniert gebaute Programme. So auch an diesem besonderen, in die Welt ausgestrahlten Konzert. Dabei befremdet das Programm auf den ersten Blick: Pjotr Tschaikowskys "Romeo und Julia"-Ouvertüre und Sergej Rachmaninows nicht gerade oft gespielte Zweite Sinfonie. Damit verweigert Petrenko dem historischen Ereignis alles Schicksalshafte und Symbolüberlastete.

Das Programm war auch ein Protest gegen Nationalismus

Dennoch ist dieses Programm ein gesellschaftliches Statement, ein Protest gegen Nationalismus und Hegemonien, ein Bekenntnis zur Kunstamalgamierung, zu Weltbürgertum und sexueller Freiheit. Warum? Rachmaninow schrieb seine Sinfonie in Dresden unter dem Eindruck der "Salome" von Richard Strauss, der Text stammt von dem als Homosexuellen ins Gefängnis gesteckten Oscar Wilde. Tschaikowsky, auch er schwul, bringt in seiner Ouvertüre Frankreich (Hector Berlioz) und England (William Shakespeare) ins Russische Reich, das erst ein paar Jahre zuvor die Leibeigenschaft und damit das Mittelalter aufgegeben hatte.

Dann hebt Petrenko den Taktstock. In seinen letzten Jahren als Musikchef der Bayerischen Staatsoper, Petrenko wechselte erst vor eineinhalb Jahren von Bayern nach Berlin, wirkte er oft getrieben auf der Suche, fast trotzig. Er schien seine Sensibilität und die Vorliebe fürs Zarte, kaum Hörbare, durch Lyrik Überraschende einzubüßen und setzte dafür aufs romantisch Übergroße und Dunkle, das er mit einem übermenschlichen Furor anzurühren versteht.

Jetzt aber, an diesem so sonderbaren Abend, an dem der Erwartungsdruck wie eine ausgehungerte Löwenherde im Raum lauerte, war Petrenko mit all seinen Interessen, Leidenschaften und Absichten völlig im Reinen. Er gab den größten der Aufpeitscher unter den Dirigenten mit den kleinsten Gesten, er war gleichzeitig heiter distanziert und bis zur Besinnungslosigkeit der Musik hingegeben, er war Mediator und nie Diktator, er versöhnte den Rausch mit der Spekulation, die Freiheit mit der Strenge, die Konstruktion mit dem Gesang, die Seele mit dem Hirn, die Spekulation mit der Virtuosität. Und die Philharmoniker, überglücklich, wieder einmal vor leibhaftig anwesenden Menschen spielen zu dürfen, gaben freudig mehr als ihr maßloser Chef mit seinem gewinnendsten Lächeln von ihnen forderte. Das Glück jedenfalls saß an diesem Abend eindeutig auch im Auditorium und verströmte sich völlig hemmungslos.

Jubeln, als stünde der Messias auf der Bühne: Publikum bei dem Konzert in Berlin. (Foto: Stephan Rabold/Berliner Philharmoniker)

Als die Musiker alle abgegangen waren, klatschte das Publikum noch immer im Stehen, und dann kam Petrenko ganz allein noch einmal auf die Bühne, dieser scheue kleine Mann, der sich so gar nicht zum Messias eignet, obwohl er an diesem Abend ein Messias war. Dann entdeckte er unterm Dirigentenpult seine Seuchenmaske, setzte sie sich auf, verneigte sich noch einmal und entschwand. In der eiskalten Nacht draußen standen dann noch viele Zuhörerinnen, tranken, aßen, plauderten und wirkten einfach nur verzaubert. Niemand träumte da mehr von Livestreams. So wie der Autor dieser Zeilen, der, während er dieses schrieb, blutenden Herzens mit dem Zug aus dem Kunstparadies Berlin zurückfährt ins Kunstgefängnis München.

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