"The King of Staten Island" im Kino:Erlöser der Freaks und Geeks

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Wie eine Tafel, auf der eine ganze Klasse herumgekritzelt hat: Scott (Pete Davidson), der seinen Bauch als Tätowiertrainingsgelände nutzt. (Foto: Mary Cybulski/Universal)

Judd Apatow wurde als Regisseur, Produzent, Autor und Mentor zum Guru der amerikanischen Comedy. Ein Telefonat anlässlich seines "The King of Staten Island", des schönsten Filmes dieses Sommers.

Von David Steinitz

Am Anfang dieser Geschichte stehen ein positiver Schwangerschaftstest und ein toter Feuerwehrmann.

Den Schwangerschaftstest, erzählt Judd Apatow am anderen Ende der Leitung in Los Angeles, verbinde er für immer mit dem Song "One Headlight" von den Wallflowers. "Der lief im Autoradio, als meine Frau und ich zum Drugstore fuhren, weil wir da einen Verdacht hatten ... Und tatsächlich bekamen wir bald darauf unsere erste Tochter. Seitdem ist ,One Headlight' so eine Art Familienhymne."

Und weil Apatow es liebt, wenn neue Filmprojekte aus kleinen, persönlichen Verbindungen entstehen, hat er natürlich aufgehorcht, als er den jungen Komiker Pete Davidson kennenlernte, der ihm erzählte, das sei auch der Song gewesen, den er immer mit seinem Vater im Auto gehört habe. Allerdings ist er bei Peterson mit einer extrem traurigen Erinnerung verknüpft. Der Vater, ein Feuerwehrmann, starb am 11. September 2001 in den Trümmern der Twin Towers, als Davidson noch in der Grundschule war.

Toter Vater, Kindheitstrauma, 9/11 - die meisten Regisseure würden vermutlich einen jener Betroffenheitspornos daraus machen, wie man sie im Dutzend auf der Berlinale ertragen muss. Nicht aber Judd Apatow: "Nachdem wir uns ein Weilchen unterhalten hatten, sagte ich zu ihm: Ich glaube, in deiner Biografie steckt eine ausgezeichnete Komödie!"

"Wen findest du gerade lustig?"

Wenn das jemand beurteilen kann, dann Apatow, der es wie kein Zweiter in Hollywood versteht, Komödien aus Tragödien zu machen, ohne den tragischen Kern einer Geschichte aus dem Blick zu verlieren.

Mit diesem Ansatz wurde der 52-Jährige zum Guru der amerikanischen Comedy, als Regisseur, Autor, Produzent und Mentor. Von den zehn besten Hollywoodkomödien seit der Jahrtausendwende war er an ungefähr neun beteiligt. Neben Kinofilmen - "The Forty-Year-Old-Virgin", "Knocked Up", "Bridesmaids" - hat er auch die Serien "Girls" für HBO und "Love" für Netflix gemacht.

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Sein Einfluss geht aber weit über die Werke hinaus, in denen sein Name im Abspann steht. So wie er einst selbst die Chance bekam, sich als junger Gagschreiber für seine Kumpels Jim Carrey und Adam Sandler zu beweisen, hat er in den letzten zehn, fünfzehn Jahren eine ganze Generation neuer Comedytalente entdeckt. Dazu gehören natürlich die Stars aus dem Jungsklub seiner frühen Filme, Steve Carell, Seth Rogen, Jonah Hill, Jason Segel.

Apatow hatte aber auch die für klassische Hollywoodverhältnisse fast schon revolutionäre Vorstellung, dass nicht nur Männer lustig sein können. Er schob die Karrieren von Lena Dunham, Amy Schumer und Kristen Wiig an, und dazu gehörte auch, dass er sie nicht nur als Schauspielerinnen wollte, sondern auch als Autorinnen und Co-Produzentinnen. Wegen dieser Lust auf neue Talente, erzählt Apatow am Telefon, stelle er jedem, den er treffe, dieselbe Frage: "Wen findest du gerade lustig?"

Krakelige Totenköpfe und unbeholfene Katzen

Das fragte er auch Amy Schumer während der Dreharbeiten zu "Trainwreck" vor fünf Jahren. Sie zeigte ihm daraufhin das Youtube-Video eines überdrehten Typen namens Pete Davidson bei seinen ersten Stand-up-Versuchen.

Apatow hatte sofort das Gefühl, dass in diesem jungen Mann ein toller Spielfilm steckt, und bekam Lust, mit ihm ein Drehbuch zu schreiben. Das Ergebnis, bei dem Apatow Regie führt und Davidson die Hauptrolle spielt, ist nun die Tragikomödie "The King of Staten Island", der schönste Kinofilm dieses merkwürdigen Corona-Sommers.

Der Film erzählt die Geschichte eines jungen Mannes namens Scott, gespielt von Davidson, der im gehobenen Alter von 24 Jahren immer noch bei seiner Mutter residiert. Er hat eine besonders schwere Form der Lebensladehemmung entwickelt, weil er nie über den Tod seines Feuerwehrvaters hinweggekommen ist.

Deshalb verbringt er seine Tage in den Kifferhöhlen seiner Kumpels, deren Souterrain-Charme kein Immobilienmakler der Welt ins Positive verdrehen könnte. Die blassen Körper der Buddys verwendet er als Übungsflächen für seine autodidaktischen Tätowierversuche: Stoisch sticht er krakelige Totenköpfe und unbeholfene Katzen auf andere und eigene Körperteile. Oberhalb des Bauchnabels sieht er wie eine Schultafel aus, auf der eine ganze Klasse herumgekritzelt hat. Die grauen Suburbs von Staten Island bilden die triste Kulisse für diese Story.

Eine Geschichte ohne den Ballast von 9/11

Das ist einerseits Davidsons echte Geschichte, andererseits aber auch nicht. Der Vater zum Beispiel ist im Film nicht im World Trade Center gestorben, sondern bei einem Hotelbrand, weil im Apatow'schen Kosmos Emotionen nie über das billige Stilmittel des Reenactments erzeugt werden dürfen.

Er ist der Meinung, dass man über ein paar sanfte fiktionale Änderungen der Realität manchmal näher kommt als mit der verbrieften Wahrheit: "Wir wollten nicht, dass die Leute gleich diese kollektiven Schockbilder von Flugzeugen und Rauchwolken im Kopf haben. Außerdem lassen sich die komischen Aspekte dieser Familiengeschichte besser erzählen ohne den Ballast von 9/11."

Der vaterlose Scott im Film überschreitet eines Tages eine jener Grenzen, die man nicht ganz klar als solche zu erkennen vermag, wenn man den ganzen Tag Haschischrauchkringel in die Luft pustet. Er versucht, einem neugierigen Neunjährigen eine Tätowierung zu verpassen, der beim ersten Einstich der spitzen Nadel heulend wegrennt und petzt. Der erboste Vater des Kindes steht bald brüllend vor der Tür des Nachwuchstätowierers. Aber wie das Leben in all seinen Irrungen und Wirrungen manchmal so will, ist er zufälligerweise nicht nur stinksauer, sondern auch Single - so wie Scotts verwitwete Mutter.

Dass seine Mutter, die er doch für sich haben wollte, ausgerechnet über diesen Umweg wieder zu einem Mann kommt, ist für Scott schon bizarr genug; dass der neue Liebhaber von allen Berufen dieser Welt aber ausgerechnet dem des Feuerwehrmanns nachgeht, führt ihn recht nah in Richtung Nervenzusammenbruch.

Seine Lieblingshelden sträuben sich gegen jede Änderung in ihrem Leben

Figuren, die sich gegen jede Änderung in ihrem Leben sträuben, damit sie sich nicht eingestehen müssen, dass es ihnen nicht gut geht, waren schon immer die Lieblingshelden des Judd Apatow. Menschen, die keinen Job haben, keinen Sex, kein Selbstbewusstsein und keine Perspektive.

Nicht umsonst hieß seine erste Fernsehserie in den Neunzigern "Freaks and Geeks". Denn durch diese Freaks und Geeks wird das Regelkorsett, das die amerikanische Gesellschaft um Lebensbereiche wie Körperpflege, Fortpflanzung und Karriere so eng zu schnüren weiß wie kaum eine andere, in seiner ganzen Brutalität plastisch sichtbar: ihre Mechanismen und Rituale, der ganze Erwartungsalbtraum, dem man nur entkommen kann, indem man auch seine komische Seite aufdeckt.

Das ist Apatow selten so präzise gelungen wie mit "The King of Staten Island". Die verzweifelten Eskapaden seines Protagonisten, den neuen Lover loszuwerden und seine Mutter und sein Kinderzimmer zu verteidigen, sind von einer heiteren Traurigkeit, wie sie nur kurz vor dem endgültigen Zusammenbruch entstehen kann.

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Apatow ist einer der wenigen amerikanischen Mainstream-Filmemacher, die sich nicht für den Weg der totalen Verfremdung interessieren, den das Hollywoodkino in den vergangenen Jahren eingeschlagen hat, indem es alles Menschliche auf mutierte Überwesen projiziert.

Er kramt lieber im eigenen Erfahrungsschatz als Inspirationsquelle für die großen und kleinen Erniedrigungen des Lebens, die sich bei näherer Betrachtung oft als komisch erweisen - was wiederum heilsam ist. "Die meisten Leute", sagt er, "kommen zur Comedy, weil sie Außenseiter sind, weil sie der kleine Junge waren, der als Letzter in die Mannschaft gewählt wurde. Das ist eine Prägung, die nie ganz verschwindet. Ich habe heute noch oft das Gefühl, mich wie ein Idiot aufgeführt zu haben."

Sein Weg der Selbstheilung geht über Folter der Protagonisten

Wie das im Alltag aussieht, belegt Apatow mit einer schönen Anekdote: "Beim Mittagessen in einem Restaurant sah ich ein paar wichtige Chefs des Sony-Studios am Nebentisch und wollte Hallo sagen. Ich fragte mit einer viel zu lauten, viel zu schrillen Stimme: ,Na, was läuft?!' Und sie sagten nur: ,Äh, hi.' Und ich fragte weiter unbeholfen: ,Was esst ihr Jungs denn Schönes?!' Und sie sagten: ,Fisch ...' Es war ein Smalltalk-Waterloo. Ich bin abgehauen und hab mich noch wochenlang wie ein Volldepp gefühlt."

Mit diesen kleinen Dissonanzen des Alltags foltert er die Protagonisten seiner Filme, was natürlich sein Weg der Selbstheilung ist. In "The King of Staten Island" wimmelt es von danebengegangenen Flirtversuchen, falsch vorgebrachten Entschuldigungen und desaströsen Aussprache-Versuchen. Für den Zuschauer fühlt sich das wie rhetorisches Waterboarding an, weil man diese Unterhaltungsniederlagen nur zu gut aus eigener Erfahrung kennt.

Aber Apatow gewährt seinen Protagonisten immer Erlösung, indem er sie aus der Höhle ihres Selbstmitleids herauslockt. In diesem Fall funktioniert das so: Scott wird von seiner Mutter vor die Tür gesetzt. Weshalb er dort landet, wo er niemals hinwollte: bei der Feuerwehr. Denn leider fällt ihm niemand anders als der gehasste neue Stiefvater ein, um nach einem Schlafplatz zu fragen, weil er es sich mit allen anderen Menschen verscherzt hat.

Und wir lernen: Die braven Feuerwehrleute von Staten Island können nach ein paar Flaschen Bier den Song "One Headlight" von den Wallflowers so perfekt schief im Chor grölen, dass man keinen Therapeuten mehr braucht, um über die Vergangenheit hinwegzukommen.

The King of Staten Island , USA 2020 - Regie: Judd Apatow. Buch: Pete Davidson, Judd Apatow, Dave Sirus. Kamera: Robert Elswit. Mit: Pete Davidson, Bel Powley, Marisa Tomei, Bill Burr. Universal, 136 Minuten.

© SZ vom 29.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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