Wenn man in "Der Mond ist aufgegangen" weiter singt als bis zum "weißen Nebel wunderbar", dann gibt es da eine Zeile, die heutigen Schlafliedsängern fremd erscheint. Sie lautet: "Lass uns einfältig werden" und meint weniger den Wunsch, ein bisschen dümmer zu sein, als man ist, als vielmehr Winckelmanns "edle Einfalt, stille Größe" der Antike: eine kindliche Form von Weisheit, geistiger Reinheit. Die Konzentration auf das Wesentliche, könnte man vielleicht sagen.
Die Gutenachtgeschichten von Kristina Andres, Malerin, Grafikerin und versierte Kinderbuchautorin, haben genau das. Sie vereinen in perfekter Balance große Originalität und berührende Schlichtheit. Es fängt damit an, dass ihre Protagonisten ein Fuchs und ein Hase sind. Dass die sich in der bekannten Provinzbeleidigung dort "Gute Nacht" sagen, wo sonst wirklich gar nichts los ist, erwähnt Andres nicht. Auch dass die beiden eigentlich Fressfeinde sind, kommt nur sehr subtil zur Sprache. Zum Beispiel, als der Fuchs dem Hasen Träume von verschiedenen Fleischgerichten wünscht. Dem Hasen wird da ganz anders. Vor dem Einschlafen flüstert er sich deshalb selbst noch ein paar eigene Traumwünsche vor, von Möhrenkuchen und "drei Reihen Kopfsalat im Morgenlicht". Sie sind verschieden, diese zwei. Aber sie leben in schöner Eintracht in einem hellen Häuschen am Rand des Dorfs, draußen murmeln die Himbeeren.
Fuchs und Hase wissen, dass Originalität wohldosiert sein muss, damit sie funktioniert
Nicht alle, aber die meisten der kurzen Geschichten (gut dosierbar!) haben mit dem Schlafen zu tun. Als der Wind einmal besonders laut ums Haus pfeift, lässt der Fuchs ihn herein und wünscht auch ihm "Gute Nacht!" - da gibt er Ruhe. Als die zwei beim Bäckerlotto eine Uhr gewinnen, können sie abends nicht einschlafen, weil die Uhr so laut tickt. Zum Glück klaut Oma Wolf sie ihnen mitten in der Nacht. Da kriegen sie zwar einen Schreck, schlafen danach aber tief und fest: "Sie hatten schließlich alle Zeit der Welt."
Es ist eine heimelige, aber gar nicht kitschige Welt, die Kristina Andres in Worten und fein gestrichelten Illustrationen entwirft. Es gibt auch einen Bösewicht, den Wolf in der Lederjacke. Vor dem fürchten sich Fuchs und Hase ein bisschen. Er klaut zwar Birnen, motzt und droht - geht dann aber nach Hause, um für seine Oma Birnenkompott zu kochen. Die Angst vor dem Wolf aus den Märchen wird hier modernisiert, ihrer Grausamkeit entledigt.
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Kristina Andres schreibt das so geradeheraus, dass es eine Freude ist. Man hält den Atem an: Irgendwann muss doch eine danebengehen von diesen vierundzwanzigeinhalb Geschichten. Aber nein. Keine geht daneben. Denn auch Fuchs und Hase wissen, dass Originalität wohldosiert sein muss, damit sie funktioniert. Dass sie an der falschen Stelle gar nichts bringt außer einem Mangel an Gefühl. Eines Abends wollen Fuchs und Hase einander mal anders als sonst eine gute Nacht wünschen. Sie sagen: "Ich wünsche dir eine gemütliche Schwärze", eine "wohltuende Verfinsterung", "erfrischende Dunkelheit". Aber sie merken schnell: ",Es ist nicht das Gleiche. Gute Nacht, Hase!' ,Gute Nacht, Fuchs!', seufzte Hase froh."