Daniela Dröscher: Lügen über meine Mutter
In Deutschland war Klassenzugehörigkeit lange kein Thema, nun wandert das literarische Schreiben darüber mit den Büchern von Annie Ernaux, Didier Eribon und Édouard Louis aus Frankreich wieder ein. Daniela Dröschers Roman "Lügen über meine Mutter" spielt 1983 bis 1986 im 500-Einwohner-Dorf Obach im Hunsrück. In ihrer kleinbürgerlichen Welt bleibt die Mutter der Erzählerin immer ein Störfaktor: Zum einen, weil sie Hochdeutsch spricht, den anderen Grund verraten die starken ersten Sätze des Romans "Meine Mutter passt in keinen Sarg. Sie ist zu dick, sagt sie." Dröscher wählt zwei Perspektiven - die der Tochter im Kinder- und Jugendalter und die der Erzählerin heute, im Moment, in dem der Roman geschrieben wird. Eine Reflexionsebene, die diese Geschichte einer Kindheit in der Provinz reicher macht.
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Hernán Díaz: Treue
Das Finanzsystem formt unsere Wirklichkeit, oder ist es umgekehrt? Mit dieser Frage beschäftigt sich Hernán Díaz' Roman "Trust" (deutsch: "Treue"): in den USA das meistdiskutierte Buch des Sommers. Die Geschichte handelt vom introvertierten Milliardär Benjamin Rask, der an der Wallstreet der Zwanzigerjahre zum reichsten Mann des Landes wird. Das Gerücht, er habe um seines Profits willen den Kollaps der amerikanischen Wirtschaft von 1929 verursacht, bewahrheitet sich. Der Kniff des Romans liegt in seiner Form, er besteht eigentlich aus vier Büchern: Neben der Erzählung von Rask gibt es den Entwurf einer Autobiografie, das Memoir einer Ghostwriterin und Auszüge aus einem Notizbuch. Wer, fragt der Roman damit, verfügt über die Aufschreibesysteme, die unsere Wirklichkeit formen?
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Jarvis Cocker: Good Pop, Bad Pop
"Good Pop, Bad Pop", so hieß eine Ausstellung der Pop-Ikone Jarvis Cocker: Irgendwann musste mal der Dachspeicher ausgemistet werden und heraus kam eine autobiografische Erzählung an wiedergefundenen Dingen entlang. Davon das gleichnamige, herrliche Buch zur Ausstellung mit seinen vielen Fotos von erstaunlichen Textilien und ambitionierten Provinz-Tanzdielen, mit seinen charmanten Plaudereien und Rezepten für alle, die auch schon mal mit dem Kopf auf der Schulbank von der Eroberung der Welt mit einer Gitarre geträumt haben. Wir sehen den 15-jährigen Cocker, der schon damals seinen Masterplan fasste: mit "fairly conventional, yet slightly off-beat, pop-songs" den Weg zum Erfolg bahnen und dann das Musikgeschäft umkrempeln.
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Vincent August: Technologisches Regieren. Der Aufstieg des Netzwerk-Denkens in der Krise der Moderne. Foucault, Luhmann und die Kybernetik
Ökologisch drängt die Zeit, und politisch geraten jahrhundertealte republikanische Systeme ins Wanken. Vincent August wendet den Blick in seinem Buch "Technologisches Regieren" von der "veralteten Rationalität der Moderne" ab, mit ihren Ideen von Souveränität, Hierarchie und Steuerung, hin zu einem "Netzwerk-Denken". So populär die Phrase von der "Komplexität der Gesellschaft" auch ist, so sehr prägen nämlich Zirkularität und Selbststeuerung der Systeme die gesellschaftliche Gegenwart. Zumindest ist das aus den Augen des Systemtheoretikers Niklas Luhmann und des Machtkritikers Michel Foucault zu beobachten. Wie gut Netzwerkdenken und das Interesse am Gemeinwohl zusammenpassen und warum sich neoliberale Ideen in all dem so hartnäckig halten, lässt sich mit diesem Buch überlegen.
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Musa Deli: Zusammenwachsen. Die Herausforderungen der Integration
Können wir nicht alle noch mal neu anfangen? Die Frage drängt sich bei dem Verständnis auf, das man gewinnt, wenn man Musa Delis "Zusammenwachsen" liest. Das Buch wird zum Augenöffner für Menschen mit, wie ohne Migrationshintergrund, indem es Schicksale greifbar macht. Der Sozialpsychologe ist Leiter des Kölner Gesundheitszentrums für Migrantinnen und Migranten. Er baut seine Brücken ohne Schuldzuweisungen oder Unschuldsvermutungen und lässt sich keiner politischen Richtung zuordnen. Welche Vorurteile man gegenüber Deutschtürken auch gepflegt haben mag, Delis Buch ändert die Perspektive. Das schafft er, indem er die Verhaltensweisen Einzelner im Kontext des gesellschaftlichen Zusammenlebens für alle Seiten gleichermaßen entwaffnend darlegt.
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Salman Rushdie: Die satanischen Verse
Es war schon langsam ins Vergessen abgesunken, was für ein globales Ereignis mit diesem Buch verbunden ist. Aber nachdem der Schriftsteller Salman Rushdie am 12. August 2022 von einem vermutlich fanatisierten Attentäter schwer verwundet worden ist, liegt es jetzt wieder auf vielen Nachtischen. Nicht etwa, um daraus die Gewalt zu erklären, die seit Jahrzehnten seinen Autor bedroht. Sondern um sich zu erinnern, dass kurz nach dem ersten Erscheinen 1989 Ajatollah Chomeini, geistiges Oberhaupt von Iran, eine Fatwa gegen Rushdie und seine "Unterstützer", also auch Verleger, Übersetzerinnen, Buchhändler weltweit, aussprach. Daraufhin gab es Anschläge, auch tödliche, Rushdie lebte ein Jahrzehnt im Verborgenen. Inzwischen hatte er sich wieder relativ sicher gefühlt, als ihn die Fatwa nach 33 Jahren noch einmal heimsuchte. Gerade jetzt empfiehlt sich deswegen: Weiter Rushdie lesen, besonders den Roman "Die Satanischen Verse"!
Die Hintergründe lesen Sie hier, zur deutschen Übersetzung des Romans hier, zur politischen Funktion der Fatwa hier.