Das Erstaunliche an Kanye West, geboren 1977 in Atlanta als Sohn einer Anglistik-Professorin und eines Black-Panther-Aktivisten, ist, dass es ihm scheinbar nebenbei, also neben eskalierendem Größenwahn, einer Ehe mit der Weltruhm-Ingenieurin Kim Kardashian, neben dem eigenen Weltruhm und einer so energischen wie erratischen Verehrung für Donald Trump - dass es ihm also daneben als Rapper und Produzent in mittlerweile auch schon über anderthalb Jahrzehnten immer wieder gelang, Pop-Meisterwerke zu erschaffen. Also große, unwiderstehliche Sample-Orgien wie die Hits "Jesus Walks", "The New Workout Plan" oder "Gold Digger", vor allem aber auch Alben wie "808s & Heartbreak" (2008) "My Beautiful Dark Twisted Fantasy" (2010) oder zuletzt 2016 "The Life Of Pablo", die allesamt die Grenzen dessen, was klanglich und kompositorisch im Mainstream-Pop möglich ist, viel weiter ins Eklektisch-avantgardistische verschoben, als das je denkbar schien.
Ein neues Studio-Album von Kanye West wie jetzt das neunte "Jesus Is King" (Universal) ist deshalb trotz all des Irrsinns und Unfugs, der ihn umgibt, noch immer nicht einfach nur ein neues Album irgendeines Musikstars. Es ist das Versprechen auf einen nächsten Meilenstein der Gegenwartskunst. Der irritierend exzentrische Geltungsdrang ist in diesem Sinn auch kein ein Ärgernis, sondern so etwas wie der notwendige Katalysator für den vogelwilden Freiheitswillen und den oft grotesk kompromisslosen Wagemut des Künstlers Kanye West.
Mit anderen Worten: Gäbe es den Größenwahn nicht, gäbe es auch keinen Grund, Freiheit und Wagemut in Pop-Geniestreiche zu verwandeln - und niemand außer ihm selbst hätte etwas davon. Das wäre jedoch, siehe oben, wirklich ärgerlich. Andererseits gelingt es ihm schon traumwandlerisch sicher, die Langmut selbst seiner größten Verteidiger zu strapazieren. In einem fast zweistündigen Interview, das der Veröffentlichung des neuen Albums unmittelbar vorausging, präsentiert er sich Zane Lowe von Apple Music als eine Art kommender politischer und spiritueller Anführer der, nun ja, Menschheit.
Aus der Ankündigung, 2024 im Rennen um die amerikanische Präsidentschaft anzutreten ist längst die prophetische Gewissheit geworden, eines Tages Präsident zu sein: "Es wird eine Zeit geben, da werde ich Präsident der Vereinigten Staaten sein, und dann werde ich mich daran erinnern, welche Gründer in der Lage waren, die kulturelle Bedeutung dessen, was wir tun, zu verstehen." Das "Wir" ist ein Pluralis Majestatis, natürlich, und die Diktion schauderhaft dräuend-drohend. Es gipfelt im Hinweis, Gott benutze ihn, Kanye West, um mit seiner Macht zu prahlen. Ach ja, das sollte man wissen zum neuen Album (zu dem übrigens auch ein IMAX-Film gehört), West hat so etwas wie eine christliche Wende hinter sich.
Er rappt jetzt im direkten Auftrag von Gott, veranstaltet regelmäßig sonntägliche Gospel-Konzerte in Kirchengemeinden, sogenannte "Sunday Services", zum Lobpreis des Herrn, und er bat seine Mitarbeiter während der Arbeit an der neuen Platte, keinen außerehelichen Sex zu haben. Es ist also alles recht verrückt um den Mann herum, aber, sagen wir so, für den erstaunlich schlappen Neo-Gospel auf "Jesus Is King" und Songs die "God Is" heißen oder "Follow God" oder "Jesus Is Lord" wäre es eindeutig besser gewesen, wenn er verrückter geraten wäre. Diesmal rettet Kanye West sein Musikgenie leider nicht. Die religiöse Erleuchtung bleibt eine verflixt unzuverlässige Muse.