Premiere in den Kammerspielen: "Who Cares?":Und wer kümmert sich?

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Martin Weigel und Erwin Aljuki tanzen einen anrührenden Pas de deux. (Foto: Simon Hegenberg/Kammerspiele)

Die Münchner Kammerspiele öffnen mit "Who Cares?", einem Stück über den Pflegenotstand. Regisseur Christoph Frick macht aus der Vorlage von Gesine Schmidt einen wirkmächtigen Theaterabend.

Von Egbert Tholl

Jetzt haben auch die Münchner Kammerspiele ihre erste echte Premiere vor Publikum herausgebracht. Dass diese den Titel "Who Cares" trägt, hat nicht etwa damit zu tun, dass das Haus im Lockdown sieben Monate lang unter dem Wahrnehmungsradar irgendwas vor sich hin wurschtelte. Man sollte also den Titel nicht mit "Wen juckt's" übersetzen, sondern mit "Wer kümmert sich". Wenn der Abend nach eineinhalb Stunden vorbei ist, weiß man, dass mit der Inszenierung von Christoph Frick die Zeit der Ablenkung mit Internet-Albernheiten passé ist. Es beginnt fies fröhlich, aber entlässt einen in eine Dunkelheit, die fast so groß ist wie die eines Theaters kurz nach Vorstellungsende.

Es geht also um Pflege. Um Pflegenotstand. Und um die Fragen, ob und was man dagegen tun kann. Dafür hat die Autorin Gesine Schmidt eine ungeheure Fleißarbeit verrichtet, hat Heimbewohner und Heimleiterinnen, Pflegedienstleister und eine Ethikerin befragt, Wissenschaftler, Marketingleiter und Techniker - im Untertitel des Stücks steht die Frage "Können Roboter pflegen?". Die persönliche Antwort darauf wie auf die ganze hier ausgebreitete Pflegemisere ist, dass es besser ist, nicht zu alt und schon gar nicht pflegebedürftig zu werden. Am Ende hört man die Worte einer Pflegedienstleiterin: "Liebe Gesellschaft, ihr erntet, was ihr wollt. Wenn ihr hohe Qualität wollt, dann setzt euch dafür ein. Und wenn es egal ist, wie ein alter Mensch am Lebensende versorgt wird, dann kommuniziert das bitte auch so: Es ist egal, langt auch so!"

Will man als Letztes in seinem Leben einen Geist mit Flachbildschirm sehen?

Schmidts Textsammlung ist eine facettenreiche Stoffsammlung, mit der man jede Diskussion über den Pflegenotstand profund unterfüttern kann, aber sie ist per se völlig untheatralisch. Das kümmert Christoph Frick wenig. Er hat kann aus schwierigen Sujets wirkmächtige Theaterabende bauen, und das gelingt ihm auch hier. Angesichts der Fülle des Materials lässt er sich erst einmal viel Zeit. Er schickt Martin Weigel ganz allein auf die von Clarissa Herbst mit weißer Lackfolie ausgekleidete Bühne des Werkraums - auf ihrer kleinsten Bühne also breiten die Kammerspiele das schwierige Thema vor circa 40 zugelassenen Zuschauern aus. Von hinten gucken einen aus den Fensteröffnungen zwei große Comic-Augen an, Weigel hat einen Umzugskarton dabei. Darin die allerletzten Hinterlassenschaften eines Heimbewohners, eine Pyjamahose, alte Slipper, eine Schnabeltasse, ein Fotoalbum. Weigel zieht sich um, zieht die Bruno-Banani-Unterhose aus und eine Windel an, verwandelt sich in einen Pflegheimbewohner. Dann kommen die vier anderen Mitspielenden auf die Bühne und donnern einen Chor der Misere ins Publikum.

Man kennt sie, und sie kommt hier mit einer zunächst gar nicht unfröhlichen Entrüstung daher: Die Menschen werden immer älter, die Pflege wird immer teurer, keiner will die Alten daheim haben, weil man Karriere machen und die nächste Netflix-Serie anschauen will. Also holt man ungelernte Arbeitskräfte aus dem Ausland, die sind willig, billig und machtlos, und wenn man von denen nicht genug findet, dann kann man ja einen Roboter hinstellen. In Videoanimationen lernt man dann Lio, Garmi, Rollin' Justin und Pepper kennen, die ausschauen wie sich bewegendes Werkzeug, eine Figur aus den "Transformers" oder wie ein Hui-Buh-Gespenst mit Touchscreen. Sie sollen das tun, wofür im Heim die Zeit fehlt und daheim die Lust, man denke auch schon über einen Einsatz in Hospizen nach, doch will man als Letztes in seinem Leben einen Geist mit Flachbildschirm sehen? Außerdem können die noch recht wenig, bleiben im dicken Teppich stecken oder fallen um. Aber: Sie können hier zu einem Tänzchen animieren.

Diese Geriatronik wirkt bald wie ein technischer Machbarkeitsirrsinn, die Wissenschaftler loben die Menschlichkeit der Pflegenden, und mit einer wütenden, verzweifelten Suada von Johanna Eiworth beginnt die Vollendung der Anverwandlung der Darstellenden. Weigel, ein Baum von Mann, und Erwin Aljukić, ein zarter, an der Glasknochenkrankheit leidender, wundervoller Schauspieler, tanzen einen anrührenden Pas de deux, Christian Löber versucht, die Robotik zu erklären, und verliert wie in beginnender Demenz die Worte. Die einem selber nun im Hals stecken wie ein dicker Kloß. Viel hat man in den vergangenen Monaten über den Pflegenotstand gelesen; kaum ein Artikel traf so tief wie dieser Abend.

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