Julian Barnes' Roman "Elizabeth Finch":Der König der unfertigen Projekte

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Die heimliche Hauptfigur des Romans: der römische Kaiser "Julian Apostata", der vom Christentum abfiel und ihm den Kampf ansagte. (Foto: IMAGO/Historisches Auge Ralf Feltz/IMAGO/AGB Photo)

Ein ehemaliger Student versucht, das Lebenswerk seiner verehrten Lehrerin zu vollenden. Doch Julian Barnes' Roman "Elizabeth Finch" wirkt auch selbst etwas unausgegoren.

Von Lothar Müller

Es ist eine markante Entscheidung, wenn ein Autor die Titelheldin seines Romans schon nach kaum mehr als fünfzig Seiten sterben lässt. So ergeht es Elizabeth Finch. Der englische Schriftsteller Julian Barnes, der sie erfunden hat, steht zu Recht im Ruf, bei seinen erzählerischen Manövern sehr genau zu wissen, was er tut. Mitten aus dem Leben gerissen hat er die Universitätsdozentin nicht, sie war längst emeritiert, als sie rasch einer Krankheit erlag.

An einem ihrer Seminare für Erwachsene zum Thema "Kultur und Zivilisation" hat vor Jahrzehnten der Ich-Erzähler des Romans teilgenommen, Neil, ehemaliger Schauspieler und Drehbuchautor, der nach dem frühen Ende seiner Karriere als Nebendarsteller in TV-Serien in die Gastronomie wechselte, später Oldtimer poliert hat und gelegentlich auf seine zwei gescheiterten Ehen zurückblickt.

Von Beginn an erzählt er von einer Toten, alles, was wir über Elizabeth Finch wissen, verdanken wir ihm, etwa, dass sie Genussraucherin und sehr konventionell gekleidet war ("Im Sommer ein Rock mit Kellerfalte, gewöhnlich marineblau, im Winter Tweed"), aber auch die Titel der beiden Bücher in ihrer schmalen Publikationsliste: " Explosive Frauen über Londoner Anarchistinnen zwischen 1890 und 1910 und Unsere notwendigen Mythen über Nationalismus, Religion und Familie."

Alle Monokulturen einschließlich der Monogamie und den Monotheismus unterwirft Finch einer vernichtenden Kritik

Nicht das Bücherschreiben steht im Zentrum ihrer intellektuellen Existenz, sondern die mündliche Lehre ("Sie stand vor uns ohne Notizen"), die En-passant-Produktion aphoristisch zugespitzter Sentenzen, der Dialog mit ihren Zuhörern. Sie zitiert den stoischen Philosophen Epiktet und hat ein dezidiert kritisches Verhältnis zur englischen Nation wie zum Christentum.

Die Heiligengeschichten der mittelalterlichen "Legenda Aurea" legt sie ins Säurebad der historisch-quellenkritischen Skepsis, beim Thema "Die Sklaverei und ihre Abschaffung" stellt sie klar, "dass die Briten auf dem amerikanischen Kontinent fast doppelt so lange Sklaven hielten wie die Amerikaner", das Leitmotiv ihrer Lehre ist die Warnung vor dem Präfix "Mono". Allenfalls Monografien lässt sie gelten. Alle Monokulturen einschließlich der verordneten Monogamie, vor allem aber den Monotheismus unterwirft sie einer vernichtenden Kritik.

Diese Lehrerin eines Typs, den er in seiner Schulzeit nicht kannte, hat Neil über das Seminar hinaus in ihren Bann geschlagen, zwei - bis dreimal im Jahr hat er sich mit ihr getroffen, bis zu ihrem Tod. In ihrem Testament hat sie ihm alle ihre Papiere und ihre Bibliothek vermacht. Er liest ihre Notizen, erwägt eine Publikation, trägt sich mit dem Gedanken, ein biografisches Porträt über sie zu schreiben. Eine seiner Töchter hat Neil einmal den "König der unvollendeten Projekte" genannt. Sie wird, was die Biografie betrifft, recht behalten.

Julian Barnes: Elizabeth Finch. Übersetzt von Gertraude Krueger. Kiepenheuer & Witsch 2022. 240 Seiten. 24 Euro. (Foto: Kiepenheuer & Witsch/Kiepenheuer & Witsch)

Aber Neil hat in den Notizen von Elizabeth Finch eine Figur wiedergefunden, die schon in ihrem Seminar eine Schlüsselrolle spielte: den römischen Kaiser Flavius Claudius Julianus (331 - 363), "Julian Apostata", der vom Christentum abfiel, ihm den Kampf ansagte, nicht weniger vorhatte, als die Konstantinische Wende rückgängig zu machen und den Tempel in Jerusalem wiederaufzubauen, der seine scharfe Kritik des Christentums aber mit Toleranz gegenüber den Christen statt mit einer neuen Christenverfolgung verband. Den zweiten Teil seines Romans füllt Julian Barnes mit dem Essay, den Neil über Julian Apostata schreibt, weil er diesen Auftrag aus dem Nachlass der verehrten Lehrerin herausliest.

Von Beginn an gehören zum Werk von Julian Barnes Essays über vergangene und gegenwärtige Literatur, die Bibliomanie seiner frühen Jahre, über ihm wichtige Kolleginnen wie Penelope Fitzgerald oder Anita Brookner oder seine Erfahrungen mit der bildenden Kunst. Ein ganzes Buch, "Nichts, was man fürchten müsste" (2008, dt. 2010) hat er der Frage nach dem Vorschein des eigenen Todes im Leben gewidmet und darin sehr viel über seine eigene Biografie erzählt. Reflexionen, essayistische Abschweifungen tragen zum Reiz seiner Romane bei.

Elizabeth Finch entstammt dieser Energiequelle seines Schreibens. Sie mag eine ältere Dame gewesen sein, als sie starb. Im Werk ihres Autors war sie eine sehr junge Figur. Durch ihren Tod nach gerademal fünfzig Seiten hat Barnes sich gegen die Option entschieden, sie zu einem britischen Gegenüber der australischen Schriftstellerin Elizabeth Costello zu entwickeln, die der aus Südafrika stammende, seit Langem in Australien lebende Autor John M. Coetzee, Literaturnobelpreisträger des Jahres 2003 am Ende des vergangenen Jahrhunderts erfunden und in einer Reihe essayistischer Erzählungen zu einer Figur der intellektuellen Herausforderung und Zuspitzung, der skandalösen Rede über Tierversuche und den Holocaust, die säkulare Moderne und das postkoloniale Zeitalter, und nicht zuletzt des Nachdenkens über die Literatur gemacht hat.

Neil ist einer der zahlreichen alternden Männer, die in Barnes' Romanen auf ihr Leben zurückblicken

Die Entscheidung für den frühen Tod von Elizabeth Finch hat die Konsequenz, dass nicht ihre Stimme, sondern die ihres Schülers Neil den Roman von Julian Barnes dominiert. Das verleiht ihm den Charakter eines Nekrologs, der das Gebot, über die Toten nur Gutes zu sagen, gerne erfüllt. Nun wäre aber Barnes nicht Barnes, wenn es damit sein Bewenden hätte. Er hat Neil zu einem Wiedergänger der zahlreichen alternden Männer gemacht, die in seinen Romanen auf ihr Leben zurückblicken und dabei wenige Wahrheiten und viele Lebenslügen zutage fördern.

Zu ihnen gehört zum Beispiel Adrian Finn, der Ich-Erzähler im Booker-Prize-gekrönten Roman "Vom Ende einer Geschichte". Für diese alternden Männer gilt im Barnes-Kosmos die Verpflichtung zum Mittelmaß. Ihr Autor legt es darauf an, ihre Mediokrität durch die Suggestion einer kunstvoll angedeuteten Rückseite ihrer Existenz auszugleichen, in der es steil hinabgeht in veritable Abgründe.

In diesem Roman gelingt das nur in Ansätzen. Neil lockert seinen Julian-Apostata-Essay, den das Aroma der Auszüge aus Lexika und Biografien umweht, durch gelegentliche Flapsigkeiten auf. Aber dabei bleibt es. Er lernt im älteren Bruder von Elizabeth Finch jemanden kennen, der ihre energische Intelligenz eher leidvoll erfahren hat, aber auch zwischen den Zeilen wird daraus keine dunkle Gegenspur.

Der säkularen Heiligenlegende der Elizabeth Finch fehlen die monströsen Züge

Neils hartnäckige Versuche, einen durch die Erinnerung ihres Bruders geisternden Liebhaber seines Idols dingfest zu machen, lassen erkennen, dass sein Interesse an Elizabeth Finch in der Ehrfurcht vor ihrer Brillanz nicht aufgeht. "Ich möchte behaupten, dass Scheitern uns mehr lehren kann als Erfolg und ein schlechter Verlierer mehr als ein guter", lehrt die Dozentin. Neil apportiert diese Einsicht, die sich bis in moderne Managerkurse herumgesprochen hat, als Beleg ihrer Originalität. Der säkularen Heiligenlegende, die er schreibt, fehlen die monströsen Züge.

Er blickt auf eine Affäre mit einer Mitstudentin im Finch-Seminar zurück und versucht im dritten Teil des Romans unschlüssig, sie zu reaktivieren. Aber das verflattert wie die Porträts der anderen Mitstudenten. Früh lässt Barnes in einer Seminarsitzung über Hitler und den Zweiten Weltkrieg die Frage aufkommen, ob Elizabeth Finch womöglich jüdischer Herkunft ist. Im dritten Teil, in dem Neil nach seinem Apostata-Essay die biografische Recherche fortsetzt, wird sie aufgegriffen, bleibt aber ein erzählerischer Blindgänger. Nicht anders steht es um den Skandal, in den Elizabeth Finch gerät, als die Boulevardpresse in einem Sommerloch ihre Christentumskritik an den Pranger stellt. Neil greift auf diese Episode vor allem zu, um seiner Heldin eine Art Märtyrerstatus zu verschaffen. Am Ende erscheint sie als Vorläuferin der aktuellen Selbstkritik im postkolonialen und Post-Brexit-England.

In seinem letzten Roman "Der Mann im roten Rock" hat Julian Barnes im Blick auf das Personal der ästhetischen und wissenschaftlichen Avantgarde im England und Frankreich des späten 19. Jahrhunderts ein Kaleidoskop der Obsessionen entfaltet und dabei weder auf die Grenzen zwischen "Fiction" und "Non-Fiction" noch auf die Gesetze des literarischen Realismus Rücksicht genommen. Dieser Roman hat demgegenüber etwas Unausgeführtes, Unausgeschöpftes. An der Grundidee, Gedanken, Theorien und Glaubensinhalte figürliche Existenz gewinnen zu lassen, liegt es nicht. Es liegt an der Disproportion zwischen dem Entwurf der Titelheldin und der erzählerischen Konventionalität ihres Schülers und Nekrologen Neil, dem Julian Barnes allzu wenig Doppelbödigkeit zugebilligt hat.

Julian Barnes: Elizabeth Finch. Roman. Aus dem Englischen von Gertraude Krueger. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2022. 240 Seiten, 24 Euro.

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