Jugendbuch:Die Alarmpfeife um den Hals

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Sterben Optimisten wirklich früher, wie die ängstliche Heldin glaubt und aus Vorsicht kaum zum richtigen Leben kommt

Von Andrea Duphorn

Frau stirbt an Schnitt in den Finger" - "Mexikaner von Kuh getötet" - " Mädchen (9) von Omas Hunden zerfleischt". Was tragische Ereignisse, Unfälle und tödliche Krankheiten betrifft, kennt Petula sich aus. Sie weiß alles über die Folgen von Erdbeben, Vulkanausbrüchen und anderer Naturgewalten, nachlässig durchgeführte Sicherheitsvorkehrungen, Terroranschlägen, Keime oder ansteckende Krankheiten. Und: "dass Optimisten zehn Jahre früher sterben als Pessimisten", weil sie Gefahren erst erkennen, wenn es zu spät ist. "Pessimisten sind realistischer. Sie treffen eher Vorsichtsmaßnahmen."

In einem Album, das sie wie einen Schatz hütet, sammelt Petula alles, was sie im Netz finden kann: Berichte über Unfälle mit Todesfolge, Fachartikel, Statistiken und Studien zu Verletzungen und Krankheiten. Und ihre Vorsicht hat einen Grund: Vor drei Jahre ist ihre kleine Schwester Maxine gestorben. Erstickt an einem Knopf, der sich von ihrem Schlafanzug gelöst hatte und den sie im Schlaf verschluckt hat. Weil Petula den Anzug für ihre Schwester gestrickt hatte, fühlt sie sich für deren Tod verantwortlich. Da können die Erwachsenen noch so oft von einem schrecklichen Unfall reden.

Susin Nielsen baut ihre Story behutsam auf, gibt ihren ebenso warmherzig wie authentisch gezeichneten Figuren Zeit und Raum sich zu entwickeln. Erst nach und nach erfahren wir, warum Ich-Erzählerin Petula Türgriffe, Menschen oder Oberflächen nie ohne Handschuhe berührt, nicht ohne Alarmpfeife um den Hals und ihre Schlüssel fest zwischen den Fingern auf die Straße geht, jederzeit bereit, eventuelle Angreifer mit aller Kraft abzuwehren. Wir erfahren von den Ängsten und Sorgen, die ihren Alltag bestimmen, den Nachmittagen mit ihrer Therapiegruppe - und "Robotermann" Jacob, der eines Tages neu dazukommt. Bei einem Verkehrsunfall hat er nicht nur seinen rechten Unterarm verloren, sondern auch den Tod seiner beiden besten Freunde verschuldet. So erzählt er es zumindest.

Behutsam trägt Jacob die Mauern ab, die Petula um sich errichtet hat, bricht die Erstarrung auf, in der sie und ihre Eltern seit Maxines Tod gefangen sind

Im Gegensatz zu Petula, die ganz von ihren Ängsten beherrscht wird, ist Jacob aber "ein aufgeschlossener, geselliger Mensch" geblieben. Mit den Videos, die er dreht, bringt er frischen Wind in die "Basteln für Bekloppte"-Gruppe - vor allem aber in Petulas Leben.

Zu Nielsens ganz großen Stärken gehört es, ihre Geschichten nie zu schwer werden zu lassen. So beschreibt sie auch in diesem Buch immer wieder Szenen, die das Herz wärmen und uns schmunzeln lassen. Behutsam trägt Jacob die Mauern ab, die Petula um sich errichtet hat, bricht die Erstarrung auf, in der sie und ihre Eltern seit Maxines Tod gefangen sind, und hilft auch sonst allen in der Therapiegruppe, ihre Traumata zu überwinden. Als sich herausstellt, dass er nicht ehrlich war, muss Petula sich entscheiden: ist sie bereit, Jacob zu verzeihen und ihren Gefühlen für ihn eine Chance zu geben? (ab 14)

Susin Nielsen: Optimisten sterben früher. Aus dem Englischen von Anja Herre. Urachhaus, 2021. 256 Seiten, 18 Euro.

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