Józef Hen:Hüter der Erinnerung

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Der Schriftsteller Józef Hen wurde am 8. November 1923 in Warschau geboren. (Foto: Robert Drozd)

Der polnische Schriftsteller Józef Hen wird 100 Jahre alt. Zum Geburtstag erscheint sein Buch über die Straße neu, in der er aufgewachsen ist. Sie lag im Warschauer Ghetto.

Von Viktoria Großmann, Warschau

Józef Hen geht nicht mehr viel aus dem Haus. Aber zur Wahl am 15. Oktober ist er doch gegangen. Das Foto davon, wie der Mann mit dem weißen Haar in einer Schulturnhalle neben einer Sprossenwand den Wahlzettel in die Urne wirft, mobilisierte wohl noch zusätzlich einige Menschen, ins Wahllokal zu gehen. Wenn ein fast Hundertjähriger das kann, dann kann es jeder.

Am 8. November erlebt der Warschauer Schriftsteller, der sich seit 1944 Józef Hen nennt, seinen 100. Geburtstag. "Eine Überraschung" sei das, sagte er gerade der Zeitschrift Polityka. Geboren wurde er als Józef Henryk Cukier in der Nowolipie-Straße, etwas nördlich und westlich des Stadtzentrums. Die Straße heißt noch heute so, aber die deutschen Besatzer ließen im Zweiten Weltkrieg kaum etwas von ihr übrig. Sie lag im Warschauer Ghetto.

Vieles in seinem Leben habe davon abgehangen, "gute Menschen zu treffen"

Von dieser Straße, von seiner Kindheit, seiner Jugend, den Großeltern, den zwei älteren Schwestern, dem älteren Bruder, dem Fröbel-Kindergarten, den Spielen in Hinterhöfen, den jüdischen Festen erzählt Hen in seinem Buch "Nowolipie. Meine jüdische Straße". Es war zuletzt in den Neunzigern noch vom Leipziger Reclam-Verlag verlegt worden, ist aber lange vergriffen. Aus Anlass des 100. Geburtstages bringt nun der Arco-Verlag das 1991 in Polen erstmals erschienene Buch neu heraus. Wieder in der Übersetzung von Roswitha Matwin-Buschmann.

Es ist ein kleines Buch mit nur 300 Seiten und ein großes Verdienst, es wieder zugänglich zu machen. Hen widmet es seinen Enkeln, allen Nachgeborenen, die dieses Warschau nicht mehr kennen, es ist eine Essenz seines Lebens. Aber längst nicht sein Lebenswerk. Das besteht aus Romanen, Erzählungen, Kinderbüchern, Reportagen, Tagebuchaufzeichnungen, Biografien. Dazu kommen Drehbücher, die meist auf Basis seiner eigenen Werke entstanden.

Józef Hen: Nowolipie. Meine jüdische Straße. Aus dem Polnischen von Roswitha Matwin-Buschmann. Arco, Wuppertal 2023. 300 Seiten, 23 Euro. (Foto: Arco)

Auf Deutsch erschienen nur vier davon, alle vergriffen, veröffentlicht in der DDR. Vor fünf Jahren wurde der Film "Der Boxer und der Tod", für den Hen die Vorlage schrieb, neu auf DVD veröffentlicht. Manfred Krug spielt in der tschechoslowakischen Produktion von 1963 einen boxenden Lagerkommandanten, der sich unter den Häftlingen einen Sparringspartner sucht. Hen beschreibt darin das Schicksal von Tadeusz Pietrzykowski, der boxend Auschwitz und andere deutsche Konzentrationslager überlebte.

In "Nowolipie" beschreibt sich Hen als ungeschicktes Kind, das gern mit so vielen blauen Flecken angeben möchte, wie der dauernd rennende und turnende ältere Bruder. Nach dem Krieg, den der Bruder nicht überlebt, arbeitet Hen zunächst auch als Sportredakteur. Im Interview mit Polityka sagte er nun, zum Sportschauen "habe ich keine Zeit mehr". Der Krieg in der Ukraine, die er selbst gut kennt, die polnische Politik, die Frauenrechte beschäftigen ihn. Der Ausgang der Wahl, bei der die regierende rechtsnationale PiS-Partei ihre Mehrheit verlor, habe ihn sehr gefreut, sagt er. Im Frühjahr hatte er der Gazeta Wyborcza noch gesagt: "Jeder findet mal ein Ende. Auch ein Kaczyński", also der Vorsitzende der PiS-Partei.

Hen hat nun auch diese Regierung überlebt. Vieles in seinem Leben habe davon abgehangen, "gute Menschen zu treffen". Diese guten Menschen tragen auch seine Geschichten. Der Verlag Volk und Welt brachte in der Spektrum-Reihe 1977 Hens heiteren Roman "Yokohama" heraus. Über eine US-amerikanische Pantomimin, die auf dem Weg nach Japan einige Zeit in Warschau hängenbleibt und das Leben des Erzählers durcheinander bringt. Die Herausgeber schrieben damals, Hen lasse seinen Protagonisten "in der Überzeugung handeln, dass kein Atom Güte unter den Menschen verlorengeht". Ein Rezept für ein langes Leben. Oder vielleicht überhaupt für den Fortbestand der Welt.

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