Josef H. Reichholf über "Regenwälder":Wir verlieren ihn

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Im August stand der Regenwald bei Novo Progresso in Brasilien in Flammen. Oft ist Brandstiftung die Ursache solcher Feuer. Es entstehen danach Flächen für den Sojaanbau. (Foto: Carl de Souza/AFP)

Josef H. Reichholf zeigt, wie sich der reiche Norden selbst belügt, wenn die Zerstörung der Regenwälder zur Sprache kommt. Einschließlich der deutschen Grünen.

Von Burkhard Müller

Die tropischen Regenwälder: Man kann diese Wörter heute kaum mehr ohne Schmerz aussprechen. Denn in der globalen Katastrophe, die die kapitalistische Menschheit angezettelt hat, scheint ihre rapid voranschreitende Vernichtung der verhängnisvollste, der unwiederbringlichste, der sinnloseste aller Verluste. Und während sich hoffen und glauben lässt, dass aus den Waldbränden in Kalifornien und Griechenland nach einiger Verzögerung wieder das erwachsen wird, was vorher da auch schon wuchs, steht zu befürchten, dass mit jedem in Amazonien niedergebrannten Baum uralte Schätze des Lebens dauerhaft dahin sind.

Josef H. Reichholf, bis zu seiner Pensionierung Leiter der Wirbeltierabteilung der Zoologischen Staatssammlung München und Professor für Ökologie, hat in den letzten Jahren eine Reihe von Büchern verfasst, von denen einem jedes einzelne die Augen öffnet. In einem Themengebiet, auf dem viel hochengagierte Konfusion herrscht, zeichnet er sich durch ruhige Kompetenz aus, welche den Ernst der Lage nicht verkennt, aber die Sachverhalte in ihren Strukturen und Proportionen zurechtrückt. Von Reichholf konnte man beispielsweise lernen, dass in bester Absicht gebaute, hocheffiziente Kläranlagen die Nährstoffe ausdünnen und reine, aber tote Gewässer zurücklassen, in denen gar nichts mehr lebt (also das Gegenteil von dem, was man eigentlich wollte); oder wie sich mit verhältnismäßig einfachen Maßnahmen das Verschwinden der Schmetterlinge wenigstens teilweise rückgängig machen ließe. Niemals rief er mit der monotonen Stimme des Bußpredigers: Kehret um!, sondern erklärte immer auf besonnene Weise, was genau es wäre, das man ändern müsste.

Jetzt also hat er den Regenwäldern, die er oft besucht und über die er auch früher schon geschrieben hat, ein ganzes Buch gewidmet. Es hat drei ungleich große Teile: einen ersten recht langen, in dem er darstellt, was das eigentlich sei, ein Regenwald, und wie sich dessen verschiedene Typen in Südamerika, Afrika und Südostasien unterscheiden; einen zweiten, in dem er die Ursachen für ihren Niedergang analysiert; und einen dritten und eher kurzen, worin er Vorschläge für eine Rettung macht. Aufschlussreich ist jeder, streiten lässt sich über den dritten.

Josef H. Reichholf: Regenwälder. Ihre bedrohte Schönheit und wie wir sie noch retten können. Illustriert von Johann Brandstetter. Aufbau, Berlin 2021. 270 Seiten, 32 Euro. (Foto: N/A)

Vom informativen Reichtum des ersten Teils lässt sich nur schwer ein Abriss geben, man muss das in seiner ganzen Fülle lesen. Reichholf spricht davon, dass Regenwälder jedenfalls nie das Paradies waren, als das die Lobpreiser der Biodiversität sie aus arithmetischen Gründen ausgerufen haben; sie zählten, aber sie schauten nicht. Die ungeheure, auf der Welt nirgends sonst übertroffene Artenvielfalt bedeutet nicht Überfluss des Lebens, sondern im Gegenteil eine Kargheit, der sich nur durch extreme Spezialisierung entgehen ließ. Vielfalt und Seltenheit bedingen einander; und gerade die artenreichsten Lebensräume erscheinen dem schaubegierigen Touristen wie ausgeleert.

Wenn Sie wirklich Vielfalt sehen wollen, rät Reichholf, fahren Sie nicht an den Amazonas mit seinen ausgelaugten Böden, fahren Sie nach Costa Rica: Dort gibt es nicht nur die Infrastruktur eines sanften Tourismus, sondern der rezente Vulkanismus versorgt die Pflanzen und so letztlich auch die Tiere mit genügend Mineralien.

Übrigens, auch darauf weist er hin, verhält es sich keineswegs so, dass tropische und subtropische Wälder nur als völlig vom Menschen unberührte überdauern könnten, und präsentiert als Beweis Kiplings "Dschungelbuch": In den monsunalen Wäldern Indiens habe es seit Jahrtausenden menschliche Interferenz gegeben, und dennoch, oder vielleicht gerade deswegen (denn menschliche Nutzung erzeugt differenzierte Zonen des Übergangs), hätten sich dort Elefanten, Tiger und kleine Wolfsjungen gehalten, während unter dem geschlossenen tiefgrünen Baldachin Amazoniens das größte Tier der Tapir ist.

Länder wie Brasilien haben von der Ausbeutung ihrer Natur den doppelten Schaden

Die Gründe, weshalb es diesen letzten Wildnissen auf der Erde außerhalb der Trocken- und Kältewüsten heute an den Kragen geht, sind nicht unbekannt; aber unbeliebt sind sie selbst bei den politischen Vertretern des Naturschutzes, ja gerade bei diesen, und werden entsprechend vage erörtert. Reichholf benennt die hier wirksamen Mechanismen mit aller wünschenswerten Prägnanz: Die reichen Staaten des Westens haben auf den diversen Klimaschutzkonferenzen die globale Vernetzung allen Handels und Handelns kaschiert, indem sie so taten, als fiele es nicht in ihre Zuständigkeit, wenn zum Beispiel Brasilien riesige Flächen rodet, um Soja anzubauen, oder die Regenwälder Indonesiens den Palmölplantagen zum Opfer fallen.

Länder wie Indonesien und Brasilien haben stattdessen eine Sonderlizenz zur CO₂-Emission erhalten, weil man diesen postkolonialen oder sonst wie benachteiligten Gesellschaften scheinbar einen Bonus einräumen wollte. Dabei hat die Bevölkerung dieser Länder von Rinderzucht, Soja- und Palmölanbau auf den neu gerodeten Flächen überhaupt nichts: Diese werden von internationalen Konzernen betrieben, die den größten Teil ihrer Produkte in den Westen und Norden ausführen.

So können in Deutschland, dank importierter Futtermittel, Mengen an Vieh gezüchtet werden, wie sie von der bei uns verfügbaren Fläche her nie zu ernähren wären. Das auf diese Weise erzeugte (und selbstverständlich subventionierte) überschüssige Fleisch wird dann auf den Weltmarkt geworfen, das heißt in Länder wie Brasilien verkauft, wo es, da konkurrenzlos billig, die einheimische Landwirtschaft zugrunde richtet. So haben diese Länder den doppelten Schaden: einmal, weil ihre natürlichen Schätze, die Wälder, zerstört werden; und zum Zweiten, weil einer vernünftigen einheimischen Landnutzung die Grundlage entzogen wird.

Reichholf und Brandstetter zeichnen Landkarten voller Trauer

Reichholf ist ein zu höflicher Mensch, um es ausdrücklich zu sagen, dass in diesem Punkt gerade die Grünen, die sich doch die Erhaltung "unserer" Umwelt auf die Fahne schreiben, nahezu komplett versagt haben. Sie schimpfen auf den brasilianischen Präsidenten Bolsonaro und lenken damit von den wahren Zusammenhängen ab. Stattdessen setzen sie auf das "nachhaltige" Palmöl als Treibstoffzusatz, wohl wissend, dass man damit hierzulande eher Wahlen gewinnt als durch Aufklärung, wo es herkommt, zumal die grünen Wedel der Palmplantagen auf Google Earth von oben so wunderbar naturnah aussehen.

Um 1950 war Borneo, doppelt so groß wie Deutschland - das ist Reichholfs Karten zu entnehmen - noch fast komplett bewaldet; um 1980 noch zur Hälfte; heute fast nur noch im Rückzugsraum seiner Gebirge. Es sind Landkarten voller Trauer. Ergänzt werden sie durch die Reiseberichte seines Illustrators und Freunds Johann Brandstetter, der dasselbe Gebiet in Malaysia einmal vor Jahrzehnten und einmal jetzt aufgesucht hat. Man mag ihn gar nicht zitieren, so niederschmetternd ist, was er zu erzählen hat.

Reichholf denkt wahrhaft global. Aber da er es tut, sieht er keine praktikable Alternative zum Kapitalismus, dessen weltumgreifendes Wirken er erkennt. Seine Empfehlung besteht darin, möglichst große Areale des bedrohten Regenwaldes aufzukaufen und damit der Zerstörung zu entziehen. Als Muster, wenngleich nicht als Vorbild, benennt er chinesische Projekte. China hat, vor allem in Afrika, in großem Stil Grund und Boden als landwirtschaftliche Produktionsfläche erworben. Könnte man das beim Regenwald, unter verändertem Vorzeichen, nicht einfach auch so machen?

An Stimmen, die vor kolonialistischer Einmischung warnen, besteht kein Mangel

Schön wär's. Zum einen dürfte die chinesische Nutzung, die immer auch die Infrastruktur verbessert, den Ortsansässigen weit mehr einleuchten als die Nutzungsunterlassung in Schutzgebieten. Zum Zweiten gibt es auch bei Chinas Politik inzwischen erhebliche Einwände vor Ort gegen das "land grabbing". Und zum Dritten, was würde man machen, wenn die verelendete Bevölkerung der "failed states" massiv in die geschützten Gebiete eindringt, wie es heute schon in den afrikanischen Gorilla-Reservaten geschieht? Will man dann, wie es ebenfalls schon heute geschieht, die Wilderer auf frischer Tat erschießen (während sie in Mitteleuropa üblicherweise mit Geldstrafen davonkommen)?

Die Ausbeutung des Südens samt seiner Wälder vom Norden her läuft auf Hochtouren - aber jeder Versuch, von hier aus, das heißt vom Norden, den Süden an seiner katastrophalen Selbstverstümmelung zu hindern, stößt auf fast unüberwindliche Schwierigkeiten. Denn nur um den Preis solcher Selbstverstümmelung kann der Süden überhaupt am Geschäft teilhaben. An teils gutgläubigen, teils heuchlerischen Stimmen, die vor kolonialistischer Einmischung warnen, besteht weder im Süden noch im Norden Mangel; und so geht alles weiter wie bisher.

Dies dem Buch Reichholfs zum Vorwurf zu machen, hieße allerdings, den Falschen anklagen. Seine Analyse ist treffend; seine Vorschläge tragen den unverkennbaren Zug der Verzweiflung.

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