Johannes Laubmeier: "Das Marterl":Nach Hause, aber wohin?

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In Niederbayern, aber hier auch in Hessen gibt es kleine Gedenkzeichen am Straßenrand, bayrisch: Marterl. (Foto: H. Tschanz-Hofmann/Imago)

Eine Kindheit in Niederbayern, der Motorradunfall des Vaters: In Johannes Laubmeiers Debüt versucht sich einer zu erinnern - an eine Vertrautheit, die es womöglich nie gab.

Von Rainer Stephan

Ein Marterl, das wissen die Bayern und ihre Touristen, ist eine Tafel an einem Baum, einem Felsen oder auf einer kleinen Säule, die anzeigt, dass just an diesem Platz jemand jäh ums Leben gekommen ist. Keine amtliche Bekanntmachung also, sondern ein höchst privates, oft sehr lakonisch und manchmal bis zur Verdrehtheit eigenwillig gestaltetes Zeichen der Erinnerung. Auch deswegen sind Marterl eng verbunden mit der Folklore des deutschen Südens.

Wenn ein Buch "Das Marterl" heißt, ahnt der Leser also, was ihn erwartet. Was nicht heißen muss, dass der Autor, um es schauplatzgemäß auszudrücken, auf der Brennsupp'n dahergeschwommen ist. Vielleicht ahnt er ja seinerseits, was der Leser ahnt, und versucht, gegen dessen skeptische Erwartung anzuschreiben, sie zu widerlegen oder wenigstens mit ihr zu spielen?

Ein schon auf der dritten Seite auftauchender englischer Satzfetzen ( Tansy to take the smell), der dann als eine Art Leitmotiv durch das ganze Buch führen wird, scheint so etwas anzudeuten. Nicht bajuwarisch kommt der Autor Johannes Laubmeier daher, sondern weltläufig. Allerdings führen die als eine Art transatlantischer Konterbande in den Romantext montierten Zitate - sie stammen von dem amerikanischen Dichter Charles Olson - immer schnurstracks zurück in die niederbayrische Kleinstadt, in der der Vater des Erzählers bei einem Motorradunfall ums Leben kam. Tansy to take the smell, das heißt: "Rainfarnkraut, um dessen Duft einzuatmen". Dieses herben Dufts wegen wurde das Kraut früher im Bestattungsgewerbe verwendet, um den Leichengeruch zu überdecken. Was Laubmeier dagegen nicht erwähnt: Der Rainfarn dient auch als Kompasspflanze. Wird er von der Sonne beschienen, weisen seine Blätter exakt in eine Richtung - nach Süden.

Der 1987 in Regensburg geborene Reporter, Übersetzer und Autor Johannes Laubmeier. (Foto: Julia Sellmann/Klett-Cotta)

Dorthin also, in die Stadt Abensberg, die auch der Ort seines Heranwachsens war, kehrt der Erzähler Jahre nach dem Tod des Vaters zurück. Seine Absicht ist eine Rekonstruktion - des Unfalls, der Vaterfigur, der eigenen Kindheit und Jugend, der Stadt von damals, die es alle heute nicht mehr gibt, weil es halt das Damals nicht mehr gibt. Und so scheitert sein Rekonstruktionsversuch: "Ich kann das alles nicht rückgängig machen und an den Punkt zurückgehen, an dem der Ort wie eine Burg im Fluss lag und mein Zuhause war. Aber ich kann mich daran erinnern, dass es ihn einmal gab. Und daran, warum es ihn nicht mehr gibt."

Jetzt, im Buch, heißt der Ort nur noch A. "Heimat", hat Ernst Bloch geschrieben, sei das, "was allen in die Kindheit schien und worin noch niemand war". Legt man den Akzent auf den zweiten Teil dieses Satzes, hat man ein zuverlässiges Kriterium für literarische Texte, die sich mit der eigenen Heimat und der eigenen Kindheit beschäftigen. Wer fühlt oder, wie die Erzählerfigur dieses Romans, schmerzlich erfährt, dass es die Geborgenheit, die ihm in die Kindheit schien, in Wahrheit nie gegeben hat, gerät gar nicht erst in Versuchung, sie erinnernd festzuhalten. In Laubmeiers bewusst kunstloser, gleichzeitig genauer und behutsam tastender Sprache wird auch sein Wille deutlich, die Erinnerung nicht in Regression und das Erinnerte nicht in Klischees umschlagen zu lassen.

Dabei verzichtet der Ich-Erzähler durchgehend auf psychologisierende Analysen oder gar Selbstanalysen. Schreibt er von seiner Jugendzeit, tritt er in der dritten Person auf: Der Junge. Was der Junge tut, was er in der Schule oder in der Kirche oder mit Freunden erlebt, berichtet der erwachsen Gewordene kommentarlos. Er sucht Nähe und scheut vor ihr zurück. Für seine Spurensuche in A. hat er eine Zeit gewählt, in der seine Mutter auf Reisen ist - "nicht, weil ich sie nicht sehen will. Ich muss das, was ich vorhabe, nur auf meine Weise erledigen, und das kann ich nicht, wenn sie hier ist." Weitere Erklärungen bietet er nicht an. Und ermächtigt so die Leser zu etwas, was ihnen Romanautoren eher selten zutrauen: sich auf ihre Geschichten einen eigenen Reim zu machen.

Johannes Laubmeier: Das Marterl. Roman. Tropen, Stuttgart 2022. 288 Seiten, 22 Euro. (Foto: N/A)

Das gilt sogar da, wo der Autor das mindestens doppelbödige soziale Gefüge der Kleinstadt beschreibt, ohne groß auf diese Doppelbödigkeit hinzuweisen. Anders als manische Heimatopfer wie Thomas Bernhard, der alle - eingeschlossen die, an denen er dennoch hing - unerträglich fand, verzichtet Laubmeier selbst bei der Beschreibung von eher unerfreulichen Mitmenschen und Menschengruppen (der aalglatte Chef der "Jungen Union" oder eine dumpfbackige Macho-Band namens Danubius Buam) auf jede Bewertung. Gerade das aber, dass Laubmeier sie als Menschen wie du und ich daherkommen lässt, macht einem diese Gestalten besonders unheimlich.

Aber auch Landschaftsgemälde (das Ufer der Donau und ihr Durchbruch bei Kelheim), höchst realistische Porträts (die Jugendfreunde, die Großkopferten der kleinen Stadt) oder regelrechte Besichtigungstouren (die Napoleonhöhe, das "falsche Hundertwasserhaus") produziert der Autor meist in den Köpfen seiner Leser, während er selbst sich auf sorgfältig angeordnete Skizzen beschränkt. Wobei er, immer auf der Hut vor Verklärung, und manchmal vor allzu viel Trauer, schon auch dafür sorgt, dass die Fantasie nicht ins Kraut schießt. Manchmal stoppt er sie schlicht mit Banalitäten. "Mein Vater trug eine Brille." "Mein Vater hat gern fotografiert, aber nicht wirklich gut." "Mein Vater wurde manchmal laut." Und dann, aus dem Hinterhalt: "Diese Liste ist nutzlos."

Der Vater, die Heimatstadt, die eigene Jugend: Je näher der Erzähler seinen Sujets kommt, desto hartnäckiger entziehen sie sich ihm, desto fremder wird ihm das vermeintlich Vertraute. Aber gerade indem er dieses Scheitern nachvollzieht, kommt der Leser dem Buch - und das Buch ihm - nahe. So nahe, dass er am Ende dem leicht melancholischen Gestus der Versöhnlichkeit misstraut, mit dem der Erzähler den Versuch seiner Selbstaufklärung aufgibt. Wie soll man sich denn mit etwas versöhnen können, was es nie gegeben hat?

Ein Marterl zur Erinnerung kann man natürlich trotzdem aufstellen. Wie nebenbei beschreibt der Erzähler ein paar Marterl, die er im Umland von A. entdeckt. Aber in Wahrheit ist dieser Debütroman selbst das Marterl - und ein bemerkenswert schönes dazu.

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