Fotografie:Situationen latenter Verwundbarkeit

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Vielleicht eine Missbrauchsgeschichte, vielleicht auch ein Spiel der Verliebtheit: Joanna Piotrowska, "Untitled", 2022. (Foto: Joanna Piotrowska/Courtesy of Southard Reid)

Bilder von alltäglicher Bedrohung, nun beeindruckender präsentiert als auf der Biennale in Venedig: Arbeiten der Fotografin Joanna Piotrowska in der Kestnergesellschaft Hannover.

Von Till Briegleb

Die Haut ist ein schwer unterschätztes Kommunikationsorgan. Ständig beschäftigt mit haptischen Informationen, mit Baumwollstoffen und Plastiktastatur, mit Atmung und Allergien, Temperatur und Transpiration, versendet das größte Organ des Menschen auch fortlaufend Beschreibungen des Seelenzustands an die Außenwelt. Sie erbleicht und errötet, erscheint gebräunt oder verpickelt, gefaltet oder gebotoxt, und in jedem Minenspiel ist sie die Leinwand, auf der die akute Stimmungslage modelliert wird. Für diese Allgegenwart im menschlichen Vermittlungswesen kommt die Epidermis in der Kunst erstaunlich selten als Objekt von Interesse vor. Museumsregel Nummer eins, "Nicht anfassen", sagt deutlich, wie das Erkenntnismedium Haut weit hinter Sehen, Hören, ja sogar Riechen zurückfällt, wenn es um die Präsenz in der Kunst geht.

Deswegen schafft es eine nahezu unheimliche Atmosphäre, einen Ausstellungsraum zu betreten, der vollkommen hautfarben ist. Joanna Piotrowskas Präsentationsdesign in der Kestnergesellschaft Hannover versieht Wände und Decke, Vorhänge und Teppichboden mit dem Farbton der Aktmalerei, als wäre das Kunsthaus ein Wesen mit einer nach innen gerichteten Empfindsamkeit. Und in diesem etwas klaustrophobischen Ambiente, das auch die amöbenhafte Assoziation zulässt, von dem Hautumschluss erstickt zu werden, inszeniert die polnische Fotografin ihre Bilder und Filme, in denen es meist um Berührung geht. Allerdings nicht im primär erotischen Sinne.

Viele der hier gezeigten Bilder zu merkwürdiger Nähe und absonderlicher Intimität sind aktuell auch auf der Biennale in Venedig zu sehen, wo die stillen Beobachtungen Piotrowskas in der Hauptausstellung "The Milk of Dreams" im Arsenale etwas unscheinbar zwischen viel grelleren Positionen verloren gehen. In den Räumen der Kestnergesellschaft wirken die gleichen Motive durch die Gefangenschaft in einer Zelle aus Haut plötzlich intensiv spukhaft und irritierend. Das Doppelporträt einer Frau mit einem Männerarm, der zur einen Seite mit einer merkwürdigen Fingerspreizung an ihren Busen greift, zur anderen Hälfte den Zeigefinger als Schweigegebot auf ihre Lippen legt, mag eine Geschichte des Missbrauchs erzählen, aber vielleicht auch ein Spiel der Verliebtheit darstellen, wofür die Entspanntheit der Frau spricht.

Porträts in der Schwebe zwischen Spiel und Gewalt, Bedrohlichkeit und Einverständnis

Solche Doppelporträts rätselhafter Situationen machen den Hauptteil der Ausstellung mit dem Titel "Sleeping Throat, Bitter Thirst" (Schlafende Kehle, bitterer Durst) aus. Ein junger Mann drückt einen anderen wie in einem Rollenspiel unbekannter Regel auf eine Matratze. Ein Mädchen an einem Weiher presst einem zweiten auf dem Boden ihren Fuß zwischen die Beine. Ein Finger berührt einen Kopf von hinten unterm Ohr, der im anschließenden Bildabschnitt von einer Strumpfmaske verhüllt ist. All diese Porträts bleiben in der Schwebe zwischen Spiel und Gewalt, Bedrohlichkeit und Einverständnis. Und durch ihren durchgängig in Schwarz-Weiß gehaltenen Charakter einer Dokumentarfotografie vermitteln diese inszenierten Situationen das Absurde wie eine konkrete Erzählung über Menschen und ihre Beziehungsgeheimnisse.

Rollenspiel mit unbekannten Regeln. (Foto: Joanna Piotrowska/Courtesy of Southard Reid)

Der zweite Motivstrang, den Piotrowska verfolgt, widmet sich Verrenkungen und unverständlichen Gesten. Eine Frau, gepresst in einer Sofaecke, verknotet ihre Arme hinterm Kopf, Mädchen in ärmlichen Wohnungseinrichtungen erstarren in Bewegungen zwischen Gymnastik und Selbstverteidigung. Und in zwei Filmloops, die von ratternden Uraltprojektoren auf die Wände projiziert werden, zeigen junge Mädchen erstarrte Posen, die aus einem expressiven Ballett stammen mögen, oder sie vollführen stille Selbstberührungen, die auch kindliche Geheimsprache sein könnten.

Schließlich inszeniert die in den letzten Jahren zu einer gefragten Künstlerin mit großen Museumsausstellungen in aller Welt aufgestiegene junge Polin mit Standort London für ihre Fotografien Schutzbehausungen. Inspiriert von den Behelfskonstruktionen aus Pappen und Einkaufswagen, mit denen Obdachlose sich einen temporären Unterschlupf im Stadtraum bauen, errichtet Piotrowska Indoor-Hütten aus Büchern und Möbelteilen, in denen sich anständig gekleidete Erwachsene verbergen. Auch diese Motive suggerieren das Kontingent alltäglicher Bedrohung in einer unsicheren Gesellschaft, übertragen es aber wie in den Berührungsbildern in eine merkwürdige Situation, die erlaubt, ihre Bilder wie groteskes Theater zu betrachten.

All diese Bildangebote, die Situationen latenter Verwundbarkeit als Momente mit offenem Ausgang darstellen, und zwar ohne jeden Schockeffekt, zeigen Haut als Territorium von Konflikten. Die Übergangszone zwischen gefühlter Innen- und Außenwelt, die Piotrowska auch in Großaufnahmen nackter Körperdetails zeigt, ist der Spielort eines sensiblen Unbehagens über körperliche Unversehrtheit. Eine Oberfläche mit großer Tiefe und Wirkung, die zeigt, wie vieldeutig dieses Medium der Berührung gedeutet werden kann. Und das geht ohne Zweifel unter die Haut.

Joanna Piotrowska: "Sleeping Throat, Bitter Thirst", Kestner Gesellschaft Hannover, bis 25. September 2022.

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