Innovative Kamerakonzepte im Kino:Faszination autonome Kamera

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Die Faszination der autonomen Kamera ist tatsächlich vor allem dort zu finden, wo Lebensgefahr herrscht. "Leviathan", dieser Film über das im Übrigen selbst manchmal hochgefährliche Gewerbe der Hochseefischerei, wurde mit kleinen, hochrobusten Helmkameras des Herstellers GoPro gedreht, dessen Modelle sich Extremsportler jeder Couleur bei ihren waghalsigen Missionen umschnallen. Man denke an das gewaltige Interesse, das der von einer Helmkamera übertragene Strato-Sprung von Felix Baumgartner hervorgerufen hat.

Die Kamera imitiert dabei das unkontrollierbare, tödliche Ausgeliefertsein dessen, an dem sie haftet, der, im freien Fall, sein Bild nicht steuern kann. Auf YouTube finden sich zahllose Clips von Kameras, die auf ihren Trägern fixiert sind wie eine Todesdrohung: Cross-Biker düsen über Bergrücken, die, verstärkt vom Froschauge der kleinen Kamera, so schmal erscheinen wie eine Wirbelsäule; ein Skifahrer rutscht kurz vor der Abfahrt vom steilen Gipfel ab und stürzt einen Hang runter; ein Fallschirmspringer kollidiert bei der Landung mit einem Kleinbus, der Aufprallschock schleudert die Kamera brutal durch die Gegend, bis sie in zufälliger, schiefer Position reglos liegen bleibt, als hätte man sie wie einen Würfel geschmissen.

Nach solchen Bildern, in denen man mit dem anderen stirbt und ihn dabei überlebt, denen der Tod immanent ist und trotzdem sein Geheimnis nicht preisgibt, kann man nur süchtig werden. Weil sie einen letztlich auch mit der Sucht konfrontieren, mit der man am eigenen Leben hängt. Darum ging es schon in Douglas Trumbulls "Projekt Brainstorm" von 1983. Dort entwickelten Wissenschaftler eine Helmvorrichtung, die Erfahrungen und Empfindungen eines Menschen aufzeichnet und für andere unmittelbar nacherlebbar macht.

Nacherleben mit allen Sinnen

Es beginnt mit Fliegen im Düsenjäger, Fahrten im Rennwagen. Was aber wirklich süchtig macht, ist nicht nur Sex, sondern vor allem die Aufnahme, die eine Sterbende im Moment ihres Todes gemacht hat und die Christopher Walken einfach unbedingt sehen muss, koste es, was es wolle: "I'm so scared. But the thing is I like it. I want more." Auch in Kathryn Bigelows "Strange Days" von 1995 stellen mit allen Sinnen nacherlebbare Clips in einem düsteren Los Angeles der Jahrtausendwende eine regelrechte Droge für Cyberjunkies dar; "Snuff Clips", in denen Leute sich dabei aufgenommen haben, wie sie jemanden umbringen oder selbst sterben, sind der übelste aller Stoffe, von dem sogar der von Ralph Fiennes gespielte Clip-Dealer lieber die Finger lässt.

In beiden Filmen kommt zum Aspekt der Todesbildersucht noch ein weiterer hinzu: die Überwachung. In "Strange Days" wird die Elektrodenvorrichtung gleich unter Perücken versteckt, da sie auch ein Instrument ist, um Leute auszuspionieren, und in "Brainstorm" werden die Wissenschaftler ermahnt, den zunächst noch klobigen, monströsen Helm in einen attraktiven, leichten, also weniger auffälligen umzuwandeln - so wie Google Glass nun mit einem italienischen Brillenhersteller paktiert, um das Gerät, das scheinbar selbst im Silicon Valley noch ziemlich verhasst ist, verkaufstauglicher zu machen - und unscheinbarer. Von den kaum mehr erkennbaren Kontaktlinsen aus dem Google-Labor ganz zu schweigen.

Aufzeichnungsgerät der Wahrnehmung

Ist Googles Brille, jenseits der bereits angeprangerten spionagetauglichen Gesichtserkennung, nicht auch die perfekte Kombination aus Helmkamera und Bildschirm, aus möglichem Aufzeichnungsgerät unserer Wahrnehmung und möglichem Abspielgerät der Wahrnehmung der anderen? Und zeigt sie nicht, dass ein zeitgenössischer "Leviathan", in dem Thomas Hobbes das Bild des absolutistischen Staats sah, heute weniger ein überwachender Geheimdienst oder ein Unternehmen wie Google ist, sondern die autonome Kamera selbst - die Autonomie der Kamera in allen autonomen Kameras?

Denn die autonome Kamera würde sich nicht nur wie ein Souverän jeder Kontrolle entziehen. Sie bliebe auch da souverän, wo jene, die sie tragen, die Kontrolle über ihr Leben verlieren. Genau darin bestünde ihre Herrschaft: Sie würde in jedem die Sucht nach der Überwachung aller anderen entfachen. Weniger nach dem Leben dieser anderen - das ist meist langweilig genug. Sondern nach dem Moment, wo dieses durch schwere Unfälle oder den Tod jeglicher Kontrolle entgleitet. Man stelle sich vor, man hätte Michael Schumacher auf seiner tragischen Skifahrt oder gar die Passagiere von MH 370 auf diese Weise "begleiten" können.

Man wäre also schlichtweg süchtig nach Kontrollverlust. Und damit nach der autonomen Kamera selbst, nach diesem unbezwingbaren leviathanischen Bildmonster, das sich an alle bindet und alle verbinden würde - ohne selbst je gebunden werden zu können.

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