50 Jahre Aufstand in der Christopher Street:Als die LGBTQ-Bewegung geboren wurde

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Polizisten vor der Tür des "Stonewall Inn" im Juni 2019. Die Bar zog mehrmals um, der Name steht seit der Razzia vor 50 Jahren für "Gay Pride". (Foto: AP)

Der Stonewall-Aufstand vor 50 Jahren war eine Initialzündung des Aufbegehrens. Heute erlebt die Szene den kommerziellen Ausverkauf - und beginnt, sich zu wehren.

Von Christian Zaschke, New York

Als die New Yorker Polizei am sehr frühen Morgen des 28. Juni 1969 eine Razzia in der Schwulen- und Lesbenbar "Stonewall Inn" veranstaltete, passierte etwas Ungewöhnliches. Normalerweise gab es bei diesen Razzien, die regelmäßig stattfanden, keinerlei oder kaum Widerstand. Diesmal aber regte sich Unmut. Leise erst, murrend, später lauter, schließlich eskalierte die Situation, es kam zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Dieser Moment gilt als der vielleicht wichtigste Wendepunkt im Kampf für die Rechte von Schwulen und Lesben.

Auch 50 Jahre später ist nicht geklärt, was der genaue Auslöser der Gewalt war. Es ranken sich verschiedene Geschichten um das Ereignis, das trotz seiner enormen kulturellen Bedeutung erstaunlich schlecht dokumentiert ist. Üblich war damals, dass bei, wie die Polizei das nannte, "Männern in Frauenkleidung" das Geschlecht überprüft wurde. Handelte es sich tatsächlich um einen Mann, wurde er festgenommen. Andere Gäste mussten sich ausweisen. Das Barpersonal wurde in der Regel ebenfalls festgenommen.

Normalerweise erhielten die Bars Tipps, wenn eine Razzia bevorstand. Die Razzien fanden gemeinhin früher am Abend statt, so dass der Betrieb später wieder normal anlaufen konnte. An jenem Tag vor 50 Jahren gab es offenbar keine Warnung, und die Razzia war ungewöhnlich spät angesetzt, nämlich um 1.20 Uhr. In dieser Nacht weigerten sich einige Besucher der Bar, ihr Geschlecht überprüfen zu lassen. Diese Überprüfung sah übrigens meist so aus, dass sie in der Damentoilette ihr Genital vorzeigen mussten. Andere Gäste weigerten sich, ihre Ausweise zu zeigen. Die acht Polizisten sahen sich einer wachsenden Gruppe gegenüber, die Widerstand leistete.

Eine der Folgen des Widerstands: Die Bildung der "Gay Liberation Front"

Aus dem umliegenden Bars strömten mehr und mehr Gäste hinzu, bald hatten sich einige Hundert Menschen rund um das Stonewall Inn versammelt. Es kam zu Schlägereien, die Polizei schickte Verstärkung. Schließlich beruhigte sich die Lage, doch in der folgenden Nacht wurde erneut protestiert. Die wahre Bedeutung des Moments hat sich damals vielleicht nicht unmittelbar erschlossen, aber es war klar, dass etwas Wichtiges passiert war.

Eine der Folgen des Widerstands war die Bildung der "Gay Liberation Front". Die Gruppe organisierte zum ersten Jahrestag des Aufstands einen Marsch vom Stonewall Inn zum Central Park. Bis heute findet in jedem Jahr in New York ein Marsch statt, und mittlerweile gibt es ähnliche Märsche in vielen Städten der Welt. Außerhalb der USA ist das Ereignis meistenteils als Christopher Street Day bekannt, während man in Amerika von "Gay Pride" spricht.

In diesem Jubiläumsjahr stehen die Feierlichkeiten unter dem Motto "Stonewall 50 - World Pride NYC 2019". Zum großen Marsch am Sonntag werden bis zu vier Millionen Menschen erwartet, es soll die bisher größte Parade werden. Seit Tagen stimmt sich New York mit Dutzenden Veranstaltungen auf das Ereignis ein, im Rose Theater hatte soeben gar eine Stonewall-Oper-Premiere. Wohl noch nie in der Geschichte war die LGBTQ-Gemeinschaft so präsent in der Öffentlichkeit. Dennoch mehren sich kritische Stimmen, und zwar aus der Szene selbst. Befürchtet wird ein Ausverkauf des politischen Vermächtnisses des Stonewall-Aufstands.

Natalie James ist eine der Mitgründerinnen der "Reclaim Pride Coalition", deren Ziel es ist, das Gedenken auf andere Art und Weise zu begehen. Seit Längerem hatte sich in der Szene Unmut darüber geregt, dass bei der Pride-Parade in New York mittlerweile viele kommerzielle Unternehmen prominent vertreten sind. James erzählt, dass im vergangenen Jahr zum Beispiel der Telefonkonzern T-Mobile mit einem eigenen Wagen an der Parade teilnahm, der in den Fernsehübertragungen sehr oft gezeigt wurde, während derer der Konzern zusätzlich reichlich Werbespots schaltete. "Die Unternehmen benutzen das Ereignis, um sich ein besseres Image zu verschaffen", sagt sie. Sie nennt das "Pinkwashing". Zu den Sponsoren gehören Banken, Hotelketten, Fluglinien, Bekleidungsfirmen und Getränkekonzerne. James und ihre Mitstreiter haben den Eindruck, dass das Ganze mittlerweile eine Art durchkommerzialisierter Karneval geworden ist.

Zunächst versuchte die Gruppe mit der Organisation "Heritage of Pride", die den alljährlichen Marsch organisiert, an Veränderungen zu arbeiten. Was den Mitgliedern der Reclaim Pride Coalition zum Beispiel neben all den kommerziellen Sponsoren missfällt, ist die Tatsache, dass auch die New Yorker Polizei an dem Marsch teilnimmt. "Es ist in unseren Augen widersinnig, dass die Polizei an einem Ereignis teilnimmt, das aus dem Widerstand gegen Polizeigewalt entstanden ist", sagt sie. Sie hält die Polizei zumindest in Teilen weiterhin für rassistisch und homophob. Mit der Teilnahme am Marsch versuche die New Yorker Polizei genau wie die Sponsoren, ihr Image zu polieren.

Beim zweiten Marsch gibt es keine kommerziellen Sponsoren und keine Polizisten

Den Bemühungen um eine Reform war kein Erfolg beschieden. "Der Marsch von 2018 war für viele von uns eine zutiefst unbefriedigende Erfahrung", sagt James, "und deshalb haben wir uns dazu entschieden, etwas zu tun." Die Gruppe beschloss, einen eigenen Marsch zu organisieren. Am gleichen Tag, in der gleichen Stadt, und doch ganz anders. Die Route des Hauptmarsches entspricht nicht mehr der des ersten Marsches von 1970. Auf Wunsch der Polizei verläuft sie größtenteils in der Mitte Manhattans, weil das einfacher zu sichern sei. Zudem sind die Straßen mit Gittern abgesperrt, es ist also nicht möglich, sich dem Marsch spontan anzuschließen. Man steht als Zuschauer am Straßenrand.

Ein Jahr lang haben James und ihr Team gearbeitet, und nun wird an diesem Sonntag tatsächlich ein zweiter Marsch stattfinden, entlang der ursprünglichen Route bis rauf in den Central Park, wo es eine Abschlusskundgebung gibt. Jeder kann teilnehmen und sich jederzeit anschließen. Es wird keine kommerziellen Sponsoren geben, es werden keine Polizisten mitmarschieren. "Wir hoffen, dass wir damit ein Zeichen setzen", sagt James, "wir hoffen, dass wir damit klarmachen, dass wir unser Erbe wieder für uns beanspruchen."

Mit wie vielen Teilnehmern sie rechnet? "Nicht mit so vielen wie beim anderen Marsch", sagt sie, "aber wenn es 50 000 Menschen werden, wäre das ein fantastischer Anfang."

© SZ vom 28.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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