Antirassismus:Antigones Enkel

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Im Museum wird ein Kolonialraub symbolisch rückgängig gemacht. Und auf Frankreichs Straßen werden neue Protestformen geübt.

Von Joseph Hanimann, Paris

Nach all den erbitterten Demonstrationen gegen rassistisch geprägte Polizeigewalt wirkt der Vorfall im Pariser Museum Quai Branly für afrikanische und ozeanische Kunst wie ein Satyrspiel dazu. Ein junger Mann kongolesischer Herkunft hat am vergangenen Freitag im Museum eine hölzerne Grabsäule der Bari-Kultur aus dem 19. Jahrhundert abmontiert, ließ die herbeigerufenen Polizisten aber keinen Satz zu Ende bringen. Über eine halbe Stunde dauerte seine von vier Komplizen gefilmte Aktion, bei der er mit grandioser Rhetorik immerfort redend das Sammlungsstück durch die langen Museumsflure in Richtung Ausgang trug. Er sei gekommen, dieses Kunstobjekt "heimzuführen", erklärte er. Neun Euro habe er bezahlen müssen, um die von den europäischen Kolonialmächten geplünderten Schätze seiner Vorfahren im Museum bewundern zu können. "England, Belgien, Deutschland, macht euch gefasst, wir werden auch zu euch kommen", fügte er hinzu, bevor er von der Polizei schließlich doch abgeführt wurde. Ein etwas geschwätziger Enkel Antigones?

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Ausgerechnet dieses Museum, das für Macrons Rückführungsprogramm afrikanischer Beutekunst in vorderster Reihe steht und das mit dem Neukaledonier Emmanuel Kasarhérou nun zum ersten Mal einen Direktor aus Übersee erhält, wurde Schauplatz dieser Aktion. Das Kunstobjekt sei so gut wie unversehrt, hieß es nüchtern von Seiten der Museumsleitung. Der Kulturminister verurteilte "aufs Schärfste" den Übergriff, so legitim auch die Kontroverse sein möge. Der junge Mann und seine Gefährten werden sich wegen Entwendung und Beschädigung von öffentlichem Kulturgut vor Gericht verantworten müssen. Der für September anberaumte Prozess verspricht großes Spektakel.

Bloßes Spektakel mit allerdings klarer politischer Agenda wollen manche auch in den Pariser Anti-Rassismus-Demonstrationen der letzten Tage sehen. Der Tod des Amerikaners George Floyd hat in Frankreich die Erinnerung an einen ähnlichen Fall vor vier Jahren wachgerufen. Der 24-jährige Adama Traoré war damals kurz nach seiner Festnahme in der Pariser Vorstadt gestorben. Das Komitee "Wahrheit für Adama" sucht seither nachzuweisen, dass der Tod durch Polizeigewalt verursacht wurde. Mit Adamas Schwester Assa als charismatischer Wortführerin - eine weitere Enkelin Antigones? - vermochte das Komitee in diesen Tagen Zehntausende auf die Straße zu bringen. Man spricht von einem neuen, politisch radikaleren Antirassismus, der den moralischen Antirassismus der Achtzigerjahre abgelöst habe.

Die Veteranen der Vereinigung "SOS Racisme", die mit ihren Aktionen damals für eine Republik der brüderlichen Gleichstellung demonstriert hatten, werden von der Nachfolgegeneration jedenfalls schräg angesehen. Ihr abstraktes Egalitätsmodell sei wirkungslos, ihr für Rassen- und Kulturunterschiede blindes Staatsbürgerideal bloße Fiktion, finden sie.

Die entscheidende Wende zu einer neuen Form des Antirassismus sehen Kenner im Jahr 2005, als zwei von der Polizei verfolgte Jugendliche in einem elektrischen Transformationswerk umkamen, die Pariser Vorstädte in Flammen aufgingen und amerikanische Stiftungen unter der Vorstadtjugend wie an den Universitäten gegen das französische Egalitätsprinzip das Nebeneinander multikultureller Absonderung populär machten. Die in den Siebzigern nach Amerika gelangte "French Theory" Michel Foucaults, Jacques Derridas, Louis Althussers und deren Kritik des "Eurozentrismus" sei in verschärfter Form zurückgekehrt und habe bei den radikaleren Foucault-Nachfolgern Anklang gefunden, analysiert der Soziologe Gilles Clavreul in einer Studie. 2005 war auch das Gründungsjahr der Bewegung "Indigènes de la République", der "Eingeborenen der Republik", die die faktische Rassenzugehörigkeit über das abstrakte Gleichheitspostulat stellen. "Dekolonialbewegung" heißt diese in sich gespaltene Bewegung, in deren Augen der Kolonialismus noch lange nicht überwunden ist.

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Der einstige Klassenkampf schlage bei ihr in schlichten Rassenkampf um, wenden Kritiker von links wie von rechts gegen sie ein. Der Essayist Pascal Bruckner, der schon 1983 mit dem Buch "Das Schluchzen des weißen Mannes" bekannt wurde, hält dem neuen Antirassismus objektive Gesinnungsnähe zu den rechtsnationalen "Identitären" vor. Bruckners Kollege Alain Finkielkraut sieht in der aufkommenden Verlegenheit mancher, zu den privilegierten Weißen zu gehören, eine neue Variante der Scham von Altlinken aus dem bürgerlichen Milieu, nicht zur Arbeiterklasse zu gehören.

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Kein Name werde aus der französischen Geschichte gestrichen, keine Statue abmontiert werden, sagte der Staatspräsident Macron in seiner Fernsehansprache am Sonntag. An manchen Tabus wird dennoch gerüttelt. Über eine Lockerung des prinzipiellen Verbots von rassenspezifischen Erhebungen, mit dem die Republik Frankreich bisher beharrlich über die real bestehenden Unterschiede hinwegblickt, könne diskutiert werden, kündigte die Regierungssprecherin Sibeth Ndiaye an. Vielleicht waren die überzogenen Positionen der neuen Antirassisten notwendig, um die Starre aus Prinzipienfestigkeit, Realitätsblindheit und Untergangsvision im republikanisch zementierten Reich Kreons zu brechen.

© SZ vom 17.06.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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