Frankfurter Buchmesse:"Die Grenzen sind nicht da"

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Benedict Wells erhielt den Preis der Jugendjury für seinen Coming-of-Age-Roman "Hard Land". (Foto: Arne Dedert/dpa)

Die diesjährige Verleihung des Deutschen Jugendliteraturpreises war ein Abend der Überraschungen und ungewöhnlichen Entscheidungen.

Von Christine Knödler

Dass Kinderbücher und Kinder selbst als Friedensbotschafter taugen, hat die Journalistin, Autorin und Gründerin der Internationalen Jugendbibliothek München, Jella Leppman, vor über 60 Jahren formuliert. An die Aktualität dieser Sätze hat Ralph Schweikart, Vorsitzender des Arbeitskreises für Jugendliteratur am Freitag bei der Verleihung des Deutschen Jugendliteraturpreises erinnert. Dass gerade in diesen Zeiten Kinder- und Jugendliteratur mehr denn je fürs Leben wappnen und für Hoffnung stehen, dass Kinderbücher und Kinder selbst für Verständigung in der Gesellschaft sorgen können, stand wie ein Motto über einem Abend, der so kämpferisch wie heiter war.

Und: Es war ein Abend der überraschenden Entscheidungen.

So gewann in der Sparte Bilderbuch eine Alltagsgeschichte mit handfesten Überzeugungen: In "Unsere Grube" der schwedischen Bilderbuchkünstlerin Emma Adbåge (Beltz & Gelberg) lassen sich die Kinder von überbehüteten Erwachsenen nicht das Spielen verderben. Anarchie, Abenteuer, das unbeirrbare Pochen auf eigene Freiräume räumen mit den letzten Überresten des Niedlichkeitsanspruchs ans Bilderbuch auf: "Es sind keine Rotznasen, sondern Trotznasen", sagte die Moderatorin des Abends, Vivian Perkovic.

Mit einer Überraschung ging es weiter: In der Sparte Kinderbuch stand die Anleitung zu Kreativität und Sprachspaß "Hey, hey, hey, Taxi!" von Saša Stanišić (Mairisch), illustriert von Katja Spitzer, unter den Nominierten. Als Siegertitel verkündete Bundesministerin Lisa Paus aber "Die Suche nach Paulie Fink" von Ali Benjamin (Hanser), eine Schule der Solidarität, die alle möglichen Medien und Stile verwendet. Die Übersetzerinnen Jessika Komina und Sandra Knuffinke nahmen die bronzenen "Momos" entgegen und berichteten vom Ausloten der verschiedenen Stile und Stimmen, der Interviews, E-Mails, Listen, mit denen das Buch erzählt. Zwischen einer Shakespeare-Challenge als Schulprojekt und griechischer Mythologie findet die Erzählerin Caitlyn am Ende zu sich, in einem Potpourri des Miteinander.

Tiefe und Ehrlichkeit in der Darstellung: Das sei die Tinte, mit der man schreiben kann

Den eigenen Weg finden zu müssen, ist fast ein Allgemeinplatz, ganz sicher aber eines der großen Motive, der Motoren des Erzählens, gerade in Coming-of-Age-Romanen. Die nominierten Titel in der Sparte Jugendbuch boten eine Vielfalt an Variationen dieses Themas - ausgezeichnet wurde ein schmaler Band, der sich liest wie ein Lehrstück: "Dunkelnacht" von Kirsten Boie (Oetinger).

Ein Riss geht durch das Umschlagbild. Ein Riss geht durch die bayerische Kleinstadt Penzberg in den letzten Kriegstagen. Ein Riss geht bis heute durch den Ort. Auch die Erzählung ist zweigeteilt in "Der Mordtag" und "Die Mordnacht". Dass die so unerbittliche wie kunstvolle Erinnerung an eines der Endphasenverbrechen der Nazis auch die Autorin persönlich bewegt, war ihr anzumerken. Bereits vor 17 Jahren für ihr Gesamtwerk mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet, ist dies der erste Preis, den Boie hier für einen Einzeltitel erhält.

Thematisch wurde das weitergeführt: In der Sparte Sachbuch bekam die autobiografische Graphic Novel "Der Duft der Kiefern" (avant) den Preis - und mit ihr das grafische Erzählen als neue Vermittlungsform für Sachwissen. Bianca Schaalburg erzählt darin ihre Familiengeschichte und entwickelt ein eigenes Farbschema für die jeweiligen Zeiträume, um Familiengeschichte, Geheimnisse und Lügen sichtbar zu machen.

Am weitesten ging vielleicht die Jugend-Jury. Die Auswahl ihrer Titel führten die Juroren wieder wie in den vergangenen Jahren als Theaterszenen auf, die Inhaltsangaben wurden sozusagen getanzt. Die Entscheidung fiel auf "Hard Land" von Bestsellerautor Benedict Wells (Diogenes) über eine Jugend im US-Bundesstaat Missouri des Jahres 1985. "Die Grenzen sind nicht da", sagte er. Das Publikum quittierte das mit donnerndem Applaus. Was zähle seien die universellen Themen wie Verlust und Einsamkeit und die Tiefe und Ehrlichkeit in der Darstellung: Das sei die Tinte, mit der man schreiben kann.

Lisa Paus (Bündnis 90/Die Grünen), Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend übergab die Gesamtwerk-"Momo" an den Illustrator Hans Ticha. (Foto: Arne Dedert/dpa)

Es ist auch die Tinte, es sind die Farben zum Zeichnen: Die Sonderpreise wurden in diesem Jahr an Illustratoren und Illustratorinnen vergeben. Der Sonderpreis "Neue Talente" ging an Mia Oberländer für ihre Graphic Novel "Anna" (Rotopol) über ein gehänseltes, weil besonders groß gewachsenes Mädchen- ein Befreiungsschlag in Bildern, in expressiver Bildsprache, voll visueller Übertreibung. Den "Sonderpreis für das Gesamtwerk" bekam schließlich Hans Ticha, der kunstvolle Anarchist und Pop-Art-Künstler, Typograf, Buchgestalter und Kinderbuch-Illustrator, der in der DDR mit Dichtern wie Peter Hacks und Rainer Kirsch zusammengearbeitet und die Bildwelt nicht nur in "Heute ist Verkehrtrumtag" auf den Kopf gestellt hat. Auf die Frage, was er den jungen Kollegen, den neuen Talenten wünsche, sagte er: "Tja, was soll ich dazu sagen. Glück!"

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