In den Dreißigern lebte in Paris ein verarmter junger Russe von großer Gelehrsamkeit. An der École Pratique des Hautes Études hielt er Vorlesungen über Hegels "Phänomenologie des Geistes". Sie wurden schnell berühmt, weckten unter französischen Intellektuellen ein neues Interesse am spekulativen Idealismus und veränderten die Wahrnehmung der Hegel'schen Werke vor allem unter Philosophen, die Hegel nicht auf Deutsch lesen konnten. Alexandre Kojève rückte den Abschnitt über Herr und Knecht, der im Original gerade einmal zehn Seiten umfasst und einem Stadium des Übergangs zum absoluten Wissen von sich selbst gilt, in den Mittelpunkt nicht nur der "Phänomenologie", sondern des gesamten Hegel'schen Œuvres. Seitdem handelt dieses Werk, in den Augen überraschend vieler Menschen, von einem Motiv, das im spekulativen Idealismus nur in einem Übergang (der Herr ist das Wissen "an sich", der Knecht ist das Wissen "für sich") vorkam, aber nun als etwas Eigenständiges behandelt wird: nämlich von "Anerkennung".
Von Anerkennung, oder, was beinahe dasselbe sein soll: von Identität, handelt das jüngste Buch des amerikanischen Politologen Francis Fukuyama. Das ist kein Zufall. Denn auch das Werk, mit dem Fukuyama auf der ganzen Welt berühmt wurde, der Essay vom "Ende der Geschichte" aus dem Jahr 1992, beruht auf der Anverwandlung eines Gedankens aus der Hegel'schen Philosophie, der dann von Alexandre Kojève verändert und verselbständigt wurde. So wie Hegel in seiner Rechtsphilosophie meinte, dass die Geschichte des Geistes in seiner eigenen Philosophie abgeschlossen werde, der wiederum im praktischen Leben der preußische Verwaltungsstaat entspreche, so erklärte Francis Fukuyama nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums, das Ende der Geschichte sei nun erreicht - in der liberalen, marktwirtschaftlich orientierten Demokratie.
"Identität" greift wieder auf auf Hegel und den spekulativen Idealismus zurück
Fukuyama hatte diese kompakte, auf eine "one great idea" hin orientierte Denkungsart von seinem Lehrer, dem Philosophen Allan Bloom übernommen, der wiederum bei Leo Strauss gelernt hatte, dem politischen Philosophen und Haupt der elitistischen "Chicago School" - der ein enger Freund Alexandre Kojèves gewesen war. Indessen verfehlten die politischen Ereignisse der vergangenen fünfundzwanzig Jahre den ihnen von Francis Fukuyama zugeschriebenen Zweck. Etwa in der Rückkehr Russlands zu einer autoritären Herrschaft, im Aufstieg Chinas, einem nunmehr zwar kapitalistischen, aber weder liberalen noch demokratischen Staat, oder im Vordringen nationaler oder religiöser Fundamentalismen.
"Identität" ist ein Versuch, die These aus den Neunzigern zu retten, wiederum im angeblichen Rückgriff auf Hegel und den spekulativen Idealismus. Gleich zu Beginn erklärt Fukuyama, von einem "Ende der Geschichte" stets nur in Form einer Frage gesprochen zu haben. Außerdem hätten seine Kritiker nicht verstanden, dass man "Ende" nicht temporal, sondern, wie bei Hegel, im Sinn einer systematischen Vollendung zu verstehen habe. Richtig ist an diesen Einwänden so viel, dass Fukuyama zwar behauptet, die Geschichte sei an ihr Ende geraten, selbst aber diese Aussicht eher trist findet. Doch gleichwohl: in der vermutlich zutreffenden Annahme, dass seine Leser nicht bei Hegel nachschlagen werden, führt Fukuyama nun ein verzögerndes oder vielleicht sogar aufhebendes Moment in seine Geschichtsphilosophie ein, eben jene "Identität": "Der globale Hang zur Demokratie, der Mitte der siebziger Jahre begann (...), ist in eine globale Rezession übergegangen."
Vor allem in Folge der großen Finanzkrisen der vergangenen zehn, fünfzehn Jahre sei dieser "Hang" nämlich in die Hände partikularer Kräfte oder "Interessengruppen" übergegangen, deren deutlichster Ausdruck im Westen die Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten und der Ausstieg Großbritanniens aus der europäischen Union sei.
"Das Verlangen nach Anerkennung der eigenen Identität vereint als Leitmotiv vieles von dem, was sich heutzutage in der Weltpolitik abspielt", erklärt Fukuyama. Danach führt er aus, dass diesem Verlangen eine spezifisch bürgerliche Denkungsart zugrunde liege, wie sie überhaupt erst im ausgehenden 18. Jahrhundert hervortrete: im Auseinander eines Bewusstseins von Gleichheit, in dem ein freier Wille agiert, der sich die Welt als ein Ensemble von Möglichkeiten vorstellt, und einer vorhandenen gesellschaftlichen Lage, in der sich alle Möglichkeiten als höchst begrenzte erweisen. Aber ist dieses "Verlangen nach Anerkennung" überhaupt vernünftig, das heißt: den tatsächlichen Erfahrungen vieler Menschen angemessen?