Ein Mann fährt auf "die andere Seite der Stadt", Berlins, zum Südstern. Gerade endet die Messe der polnischen Gemeinde in einer neben der vatikanischen Nuntiatur gelegenen Kirche. Auf der anderen Straßenseite befindet sich ein kleines polnisches Restaurant und Feinkostgeschäft. Dort geht der Mann essen und unterhält sich kurz mit einem ehemaligen Klavierstimmer, der sich zu ihm an den Tisch setzt, während immer mehr Besucher des Gottesdienstes in den Laden strömen. Wer jemals an einem Sonntag in der Gegend spazieren war, wird bestätigen können, dass alle Details wirklichkeitsgetreu geschildert sind. Selbst der Name des Restaurants, "Mały Książę", "Der kleine Prinz", ist korrekt. Damit ist der Ton gesetzt. Der Text bewegt sich ganz dicht an nachprüfbaren Fakten. Wir erfahren, dass der Erzähler, wie sein Autor, offenbar polnischstämmig und Schriftsteller ist.
Es geschieht wenig. Die Pierogi sind nicht die besten, die er jemals gegessen hat, aber gut. Das Gespräch ist vordergründig belanglos. Und trotzdem baut sich eine eigenartige Spannung auf. Es ist, als wäre die ganze Szene mit einem Summen unterlegt, dem Betriebsgeräusch hochgeregelter Wahrnehmungsempfindlichkeit.
Matthias Nawrat hat mit seinen bisher drei Romanen ein hohes Formbewusstsein bewiesen. Als Zehnjähriger kam er 1989 mit seinen Eltern nach Deutschland. Nach dem Abitur studierte er zunächst Biologie, und man ist versucht, eine Analogie zwischen der Wandelbarkeit seines literarischen Stils und der Lehre von den Lebewesen zu ziehen. Um morphologische Merkmale oder die Feinheiten der Zellfunktion entschlüsseln zu können, sind eine scharfe Mustererkennung und klare Kategorien nötig. Aber um sie wirklich zu verstehen, auch ein zärtliches Staunen. Denn wir betrachten unsere eigenen Wurzeln, die Bausteine unserer Existenz und die Vielfalt, deren Teil wir sind.
In diesen Geschichten wird alles, auch die Vergangenheit, gleichermaßen Gegenwart
Literatur will dieses Staunen über die Phänomene immer wieder neu ermöglichen. Dafür muss sie die richtige Form finden. Im vielgelobten Buch "Die vielen Tode unseres Opas Jurek" (2015) war das der Schelmenroman, der einmal quer durch die polnisch-europäische Geschichte führte und vor Auschwitz nicht haltmachte. Auf welche Weise von der Vernichtung der Juden in fiktionalen Texten die Rede sein kann, wird aktuell wieder diskutiert. Auch die launigen Berichte des Opas Jurek sorgten seinerzeit bei manchen Rezensenten für Irritationen. Aber Nawrat hatte seine Entscheidung, das Unvorstellbare durch die Augen des Picaros zu zeigen, nicht leichtfertig getroffen.
Sein jüngster Roman ist der Krise abgelauscht. Einer Krise des Schreibens, begriffen wenn nicht als Symptom, dann doch als in Verbindung stehend mit einer fundamentalen Leerstelle im Leben der Menschen. "Der traurige Gast" - das ist zunächst der Erzähler selbst. In den Monaten vor und nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin, der so etwas wie den beiläufigen Angelpunkt des Romans bildet, streift er, offenbar unfähig, seinem Beruf nachzugehen, also zu schreiben, durch die Stadt, lernt Menschen aus verschiedenen, einander kaum berührenden Milieus kennen, besucht sie und hört ihnen zu. Nicht selten tut er das widerwillig, aber er kann sich nicht losreißen. Es ist, als sei es seine Bestimmung, sich ganz auf seine Nächsten einzulassen. Er erinnert darin an die Engel im Wim-Wenders-Film "Himmel über Berlin". Allerdings mit dem Unterschied, dass seine Menschlichkeit außer Zweifel steht und ihm wohl bewusst ist.
Seine "Berufsunfähigkeit" und irgendwann sogar der Unwille, überhaupt noch vor die Tür zu gehen, werden Voraussetzung, um so empfänglich gegenüber der Welt zu sein. Von Pathos keine Spur. Alle, denen er zuhört, sind versehrt, versuchen ihrer Vergangenheit eine Form zu geben, mit der sie heute leben können. Sei es die Architektin, die ihr Haus kaum noch und ihr Viertel in Schöneberg gar nicht mehr verlässt, oder der bei einer Tankstelle jobbende frühere Arzt, der säuft und den Tod seines Sohnes nicht verwinden kann. Sie philosophieren aus existenzieller Notwendigkeit. In ihren Geschichten, ihren Orientierungsversuchen wird alles gleichermaßen Gegenwart.
Oder vielleicht eher: Die Gegenwart weitet sich in die Vergangenheit hinein. Das Schicksal historischer Personen wie des polnisch-jüdischen Dichters Arnold Słucki, der seine Heimat verlor und schließlich in West-Berlin strandete, wo er mit 52 Jahren starb, findet ebenso seinen Platz wie verschrobene Privatphilosophien, Schuldgefühle, Migrationserfahrungen. Es ist ein Anerzählen gegen die Vergeblichkeit, in dem die Verwerfungen eines Jahrhunderts sichtbar werden. Der misstrauische Junge vom Hinterhof ist ebenso unbehaust wie die polnischen Auswanderer oder die Rumäniendeutschen. Die Sinne des Ichs, das von all dem berichtet, sind hellwach. Besonders reizoffen ist es gegenüber der Stadt. Sein Zustand zwischen Erschöpfung und Unruhe lässt Alltägliches ganz leicht überbelichtet erscheinen.