"Wir sind dann wohl die Angehörigen" im Kino:"Vorher wusste ich nicht, was Angst ist"

Lesezeit: 4 min

Ist der Vater schon tot? Claude Heinrich und Adina Vetter in "Wir sind dann wohl die Angehörigen". (Foto: Pandora Film)

Die Reemtsma-Entführung aus der Sicht der Familie: Hans-Christian Schmids beeindruckender Kinofilm "Wir sind dann wohl die Angehörigen".

Von Martina Knoben

Johann Scheerer ist 13, als sein Vater entführt wird. Eines Morgens ist der Vater weg und im Garten liegt ein Brief, der mit einer Handgranate beschwert ist. "Johann, ich muss dir etwas sagen", weckt ihn seine Mutter. "Wir müssen jetzt gemeinsam ein Abenteuer bestehen. Jan Philipp ist entführt worden."

"Vorher wusste ich nicht, was Angst ist", sagt Johann (Claude Heinrich) im Film von Hans-Christian Schmid. "Wir sind dann wohl die Angehörigen" erzählt die Geschichte der Reemtsma-Entführung aus der Sicht seines Sohnes, es beginnt wie ein True-Crime-Spektakel. Da werden Johann und seine Mutter in einem Auto weggebracht, es ist Nacht, die Kamera wirkt wie gehetzt. Der Junge zieht die Kapuze seines Sweatshirts über den Kopf, um sich vor den Blitzlichtern der Reporter zu schützen. Eine "Reporter des Satans"-Geschichte folgt dann aber glücklicherweise nicht. Und auch kein Krimi, kein Thriller oder True-Crime-Format, obwohl all das erwartbar gewesen wäre, das Publikumsinteresse garantiert. Hans-Christian Schmid, der zuletzt für die Fernsehserie "Das Verschwinden" (2017) gefeiert wurde, und schon einfühlsam Filme nach wahren Begebenheiten inszenierte, wie "Requiem" , "Crazy" und "23", zeichnet stattdessen das Drama der Familie nach. Es ist eine zutiefst persönliche Geschichte, die gleichzeitig das Gefühl unserer Gegenwart trifft: das eines gewaltsamen Bruchs, einer Zeitenwende. So wie es war, wird es nie wieder sein.

Alles wird verkabelt, das Telefon abgehört, das ist so grotesk wie beklemmend

Im März 1996 wird der Hamburger Philologe, Sozialforscher und Multimillionär Jan Philipp Reemtsma verschleppt. 33 Tage wird er gefangen gehalten, angekettet in einem Keller, die Familie bekam ein Polaroid. Die Kidnapper forderten erst 20, dann 30 Millionen Mark Lösegeld, es war eines der spektakulärsten Verbrechen der Bundesrepublik. Reemtsma hat selbst ein Buch darüber geschrieben, "Im Keller", 1997. Mit dem Abstand von mehr als 20 Jahren hat sein Sohn Johann Scheerer in "Wir sind dann wohl die Angehörigen. Die Geschichte einer Entführung" die Ereignisse 2018 aus der Perspektive der Familie beschrieben.

Der Film erzählt von der Entführung in einer langen Rückblende, das Ende ist ohnehin bekannt. Zuerst ist ein bisschen Familienalltag zu sehen, Johann in der Schule und mit seiner Band, seine größte Sorge ist eine Latein-Klausur. Ein Gespräch zwischen ihm und seinem Vater Jan Philipp (Philipp Hauß) über ebenjene Latein-Klausur zeigt schon, wie präzise Hans-Christian Schmid und sein Drehbuchautor Michael Gutmann ihre Figuren und die Dynamiken in der reichen Bildungsbürgerfamilie sezieren. Da drängt der Philologe Reemtsma dem Sohn seine Faszination für die alten Römer auf, Vergils "Aeneis" wird Pflichtlektüre ("bis Ostern!"). Seine intellektuelle Strenge und Distanziertheit wirken beklemmend, wie das Haus, in dem er arbeitet: Nicht weit vom Haus der Familie hat er ein eigenes Vater-Haus voller Bücher, die, so hat es der reale Johann Scheerer in seinem Buch beschrieben, er immer als Rivalen um die Aufmerksamkeit und Liebe seines Vaters erlebt habe.

Dann ist der Vater verschwunden, entführt, als ihn der pubertierende Sohn dringend gebraucht hätte - als Sparringspartner, zur Ablösung. "Wir sind dann wohl die Angehörigen" ist auch eine Coming-of-Age-Geschichte: erwachsen werden auf die harte Tour. Die "Aeneis" wirft Johann in den Müll, um später verzweifelt in der Tonne zu wühlen, als er den Vater für tot hält.

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Vom Verbrechen selbst ist im Film nichts zu sehen, alles ist Widerhall und Warten. Wie die Wellen, die entstehen, wenn man einen Stein ins Wasser wirft, breitet sich der Schrecken aus, etwa als Ann Kathrin Scheerer das Polaroid von ihrem Mann sieht. Adina Vetter spielt sie als eine Frau von schmerzhaftester Disziplin, die fast verstummt und versteinert bei dem Versuch, sich ihren Gefühlen nicht zu ergeben. Was nicht ausgesprochen wird, von ihr nicht und nicht von ihrem Sohn, ist, dass die Täter den einzigen Zeugen vermutlich töten werden. Einmal guckt Johann einen Film, den Science-Fiction-Klassiker "Silent Running". Der Astronaut darin ist der vielleicht einsamste Mann im Weltall.

Dem Keller des Entführten entspricht die Gefangenschaft der Angehörigen daheim, deren Zuhause zur Einsatzzentrale wird. Zwei Polizisten ziehen ein, die sich als "Angehörigenbetreuer" mit Codenamen vorstellen, alles wird verkabelt, das Telefon abgehört, das ist so grotesk wie beklemmend. Die Mutter holt außerdem den befreundeten Rechtsanwalt Johann Schwenn (Justus von Dohnányi) ins Haus und einen Freund der Familie (Hans Löw), der sich um Johann kümmert. Alle warten auf Nachrichten der Entführer. Dabei gelingen dem Film präzise Psychogramme, wenn etwa der überhebliche Rechtsanwalt Schwenn bei den Telefonaten mit den Entführern Fehler macht und unter dem Druck schließlich zusammenbricht.

Wer einmal aus seiner Welt geworfen wurde, findet nicht so leicht zurück

Vor allem Claude Heinrich als Johann ist toll. Er hat, 16-jährig, schon viel Schauspielerfahrung gesammelt, in "Lindenberg", "8 Tage" oder "A Pure Place", und lässt ein ganzes Paket widersprüchlicher Empfindungen aufscheinen: kindliche Unbeschwertheit (die Polizeiarbeit ist ja auch spannend), pubertäre Verstocktheit, sprachlosen Schrecken - und die wütende Trauer um einen Vater, der als vermeintlich Toter erst recht zum Übervater wird.

Der Film weicht allerdings von seiner Vorlage ab, die die Ereignisse konsequent aus der Sicht des 13-Jährigen schildert. Im Film ist die Perspektive nicht so klar, sind auch Abläufe zu sehen, die der Junge nicht miterlebt hat. Das lässt den Film konventioneller aussehen als er ist. Tatsächlich ist "Wir sind dann wohl die Angehörigen" ganz und gar unsentimental, fast brutal nüchtern. Das Unterhaltungskino findet gern das Positive in Tragödien, Hans-Christian Schmid aber verweigert den Tätern und dem Verbrechen jegliche Sinnstiftung. Wenn Vater, Mutter und Sohn am Ende zusammen in einem Bett liegen, ist das kein Happy End. Johanns Blick geht aus dem Bild hinaus in die Kamera: Wer einmal aus seiner Welt geworfen wurde, findet nicht so leicht zurück.

Wir sind dann wohl die Angehörigen, D 2022 - Regie: Hans-Christian Schmid. Buch: Michael Gutmann, H.-Ch. Schmid. Kamera: Julian Krubasik. Schnitt: Hansjörg Weißbrich. Musik: The Notwist . Mit: Claude Heinrich, Adina Vetter, Justus von Dohnányi, Hans Löw, Yorck Dippe, Enno Trebs, Fabian Hinrichs, Philipp Hauß. Pandora, 118 Minuten. Kinostart 3. November 2022.

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