"Haute Couture" im Kino:Plötzlich Prinzessin

Lesezeit: 3 min

Esther (Nathalie Baye) passt Jade (Lyna Khoudri) ein Haute-Couture-Kleid an. (Foto: Roger Do Minh/Happy Entertainment)

Der französische Spielfilm "Haute Couture" erzählt von der Kluft zwischen der Banlieue und dem "J'adore Dior"-Paris - und wie man sie überwindet.

Von Martina Knoben

Die elegant gekleidete Frau fällt auf in der Metro, so weit ab vom Zentrum, auf dem Weg in die Pariser Banlieue. Zwei junge arabischstämmige Männer sitzen Esther (Nathalie Baye) gegenüber, mustern die reiche Dame, wollen sie austesten. Der Mantel sei doch sicher teuer gewesen, ob sie mal fühlen dürfen - schon reibt einer den Stoff zwischen den Fingern. Der Übergriff wirkt bedrohlich. Wo es um Kleiderstoffe geht, ist Esther aber in ihrem Element. Das sei ein mit Seide gefütterter Wollmantel, doziert sie, keine Kunstseide, sondern gute Qualität. Nicht wie das Acrylzeug, das die jungen Kerle tragen, Acryl stinke: "In euren Unterhosen", erklärt Esther ungerührt, "duftet es sicher nicht nach Blumen."

Frankreich hat gewählt - und eine Zerrissenheit offenbart, die gerade auch diverse Kinofilme thematisieren. In "Haute Couture" lassen sich die sozialen Unterschiede leicht an der Kleidung ablesen: Esther arbeitet als Direktrice bei Dior und trägt vermutlich nur Maßgeschneidertes. Jade (Lyna Khoudri) kommt aus der Vorstadt und hüllt sich in ein ballonartiges Polarfleece, den Reißverschluss zieht sie bis zum Kinn. Jade klaut Esther die Handtasche, bereut ihre Tat und gibt die Tasche zurück. So kommen das Vorstadtmädchen und die Haute-Couture-Schneiderin zusammen.

Jade wohnt in Seine-Saint-Denis nördlich von Paris, wo es die Plattenbauten gibt und die Kriminalitätsrate hoch ist. Viele Menschen dort haben maghrebinische oder schwarzafrikanische Wurzeln. Im ersten Wahlgang der französischen Präsidentschaftswahl stimmte hier jeder Zweite für den Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon. So unterhaltsam sich "Haute Couture" gibt, wirken die Eindrücke aus diesem Viertel dennoch realistisch: Jade geht nicht zur Schule, hat aber auch kein Interesse an einem Job. Ihre Mutter ist depressiv und bezieht seit Ewigkeiten Sozialhilfe, der arabischstämmige Vater ist wohl irgendwann abgehauen. Mit der besten Freundin rumhängen, die Mutter versorgen, mal Kosmetik oder eine Handtasche klauen, so sieht Jades Alltag aus.

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Die Regisseurin Sylvie Ohayon, die selbst aus den Vorstädten kommt, geht das Thema bei allem Realismus aber deutlich optimistischer an als etwa " La fracture" (deutsch: "In den besten Händen"), ein weiterer aktueller Frankreichfilm , der den gesellschaftlichen Bruch schon im Originaltitel trägt. "Haute Couture" ist ein Märchen zwischen Tüll und Seidenstoffen - Banlieue und J'adore-Dior-Paris sollen zusammengebracht werden in einer patriotischen Erzählung. Dafür bietet Esther Jade nach dem Handtaschenklau ein Praktikum bei Dior an. Das ist in keinem Moment glaubwürdig - aber so ist das eben, wenn man Risse flickt: Man muss die Ränder kräftig zusammenzwingen.

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Stoffe wärmen wie Esthers Wollmantel, sie können eine Rüstung sein wie Jades Polarfleece - oder verwandeln ein Vorstadtmädchen für einen Moment in eine Prinzessin. Vor allem aber sind Tüll und Seidenstoffe für Jade die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben, so erklärt es Esther ihrer Praktikantin. Die Schneiderin will kurz vor der Rente ihr Handwerk und ihren Sinn für das Schöne weitergeben, außerdem ist sie fürchterlich einsam. Jade wird zu ihrer Ersatztocher.

"Ich bin eine Romantikerin aus der Banlieue, die sich emanzipieren konnte", sagt die Regisseurin und erzählt von ihrer Liebe zu Frankreich und wie hart sie selbst in ihrer Jugend gearbeitet habe. In der Liebe könne man nicht sicher sein, dass man wiedergeliebt werde, zitiert sie einen Freund. Die Arbeit dagegen gebe einem immer das zurück, was man ihr gegeben habe.

Zwei Frauen, zwei Kleidungsstile: Esther (Nathalie Baye, links) und Jade (Lyna Khoudri). (Foto: Roger Do Minh/Happy Entertainment)

Mit diesem protestantischen Arbeitsethos stattet sie Esther aus, die ihr Leben völlig den schönen Stoffen und Kleidern gewidmet hat. Nathalie Baye liefert die wunderbare Skizze einer Frau, die eigenwillig, hochdiszipliniert und leidenschaftlich in ihrer Arbeit ist, dafür aber auch einen hohen Preis bezahlt. So "ausgedacht" die Erzählung von "Haute Couture" wirkt, so lebendig und wahr sind seine Frauenfiguren: die Näherinnen im Atelier, vor allem aber Jade und ihre beste Freundin Souad (Soumaye Bocoum), die sich schwesterlich lieben. Jade krault Souad die krausen Haare.

Jades Praktikum aber droht die beiden auseinanderzubringen: Souad lacht ihre Freundin aus, weil sie arbeiten will, sie selbst werde bequem von Sozialhilfe und Wohngeld leben, den Staat - Frankreich - ausnehmen. "Frankreich", entgegnet Jade, "das sind wir."

So viel Patriotismus könnte verlogen wirken, als überraschte Erkenntnis einer Vorstadtjugendlichen aber wirkt er stimmig. Auf eine vielleicht nur scheinbar naive Weise bestätigt die Regisseurin mit ihrem Film Frankreichs Selbstbild, dass Glaube, Hautfarbe und Herkunft in diesem Land nicht so wichtig sind. Jedenfalls sind die Menschen dann doch nicht so übersichtlich sortiert, wie das zunächst den Anschein hatte: Einige der Dior-Näherinnen kommen ursprünglich aus der Banlieue. Und Abel (Adam Bessa), in den sich Jade verliebt, hat zwar dunkle Haut und heißt eigentlich Abdel, hat die Banlieue aber nie gesehen. Seine Mutter ist eine wohlhabende arabischstämmige Anwältin.

Haute Couture, F 2021 - Regie: Sylvie Ohayon. Buch: S. Ohayon, Sylvie Verheyde. Kamera: Georges Lechaptois. Schnitt: Mike Fromentin. Mit: Nathalie Baye, Lyna Khoudri, Pascale Arbillot, Claude Perron, Soumaye Bocoum, Adam Bessa. Verleih: Happy Entertainment, 100 Minuten. Kinostart: 21.4.2022.

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