Favoriten der Woche:Im Universum der Werte

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Mit NFTs gegen Kolonialismus, ein neu gelesener "Freischütz" und ein wieder gelesener Essay, super Vorträge und ein Superhelden-Auto: fünf Empfehlungen der Redaktion.

Von SZ-Autoren

Irrenhaus als Fundament: "Freischütz" in Kassel

Dass Carl Maria von Webers "Freischütz" kurz nach Ende des Dreißigjährigen Krieges spielt, hat bislang kaum jemanden interessiert. Von ihrer Uraufführung 1821 an galt die Oper als deutsches Nationalmusikepos, mit Bäumen, Jägern und einem Geist. Aber der Hinweis auf die Massaker des vorangegangenen Krieges steht im Libretto. Der Regisseur Ersan Mondtag fand ihn, und davon ausgehend entwirft er am Staatstheater Kassel ein bizarres Pandämonium, einen irren Totentanz, eine von Nina Peller und Teresa Vergho grell ausgestattete Welt von Scheintoten, Versehrten, Verrückten. Die deutsche Romantik ruht auf einem Irrenhaus als Fundament, das Lied vom "Jungfernkranz" wird zur Verzweiflungs-Polonaise schwer gestörter Gestalten. Das kracht und knirscht, nicht alles geht auf, aber in der Summe ist es großartig. Egbert Tholl

Hoch im Diskurs: Dresdner Reden

Mit Karl May gegen Fake News: Clemens Meyer bei den "Dresdner Reden". (Foto: Gaby Gerster)

Ein wenig ist es bei den "Dresdner Reden" wie bei Rock am Ring - kurz vor Bekanntgabe der Headliner ist die Neugier immer am größten. Seit 1992 formulieren jeden Februar jeweils vier bekannte und/oder renommierte Menschen ihre "Gedanken zur Zeit" im Schauspielhaus, organisiert vom Theater in Kooperation mit der Sächsischen Zeitung. Und würde man diese Reihe zu ihrem Jubiläum mit einem Festivalshirt ehren, im Line-up auf der Rückseite fänden sich folgende Oberkracher: Willy Brandt, Hans-Dietrich Genscher, Elke Heidenreich. Helmut Schmidt, Regine Hildebrandt, Christa Wolf. Naika Foroutan, Roger Willemsen.

Dem ehemaligen Intendanten Wilfried Schulz gefiel die Reihe so gut, dass es an seiner neuen Wirkungsstätte inzwischen die "Düsseldorfer Reden" gibt. In Dresden sprechen dieses Jahr der ehemalige Bundesumweltminister Klaus Töpfer, die Philosophin Svenja Flaßpöhler, die Schriftstellerin Mithu Sanyal. Schon gesprochen hat am vergangenen Sonntag der Schriftsteller Clemens Meyer und da gab es natürlich nichts von der Stange. Meyer setzte den großen sächsischen Lügner und Erzähler Karl May auf die Gegenwart von Fake News und Verschwörungsmythen an - und er fragte, ob die humanistischen und verrückten Helden des "Doktor May" jetzt helfen könnten, "oder sind die schon im Irrenhaus?"

Natürlich gab es auch in Dresden immer wieder mal Sonntagsreden im Sinne von: europäischer Gedanke, staatspolitische Verantwortung, "lassen Sie mich zum Schluss noch kurz...", gähn. Oft sind die Matineen aber von einem besonderen Zauber, gerade in der zu Unversöhnlichkeit und Starrsinn neigenden Stadtgesellschaft Dresdens. Auf der Bühne erhalten Thesen, Zweifel und auch abwägende Gedanken Raum - im Publikum hört man zu und wendet Gehörtes im Kopf, spricht später mit Dritten darüber. Nicht immer reden die Geladenen dem Publikum nach dem Mund, nicht immer erklingen ihre Vorträge in einem Timbre wie beim Karlspreis. Mal darf sich das Publikum wohl- und bestätigt fühlen, dann wird es wieder herausgefordert. All dies trägt in notwendiger Weise zum Diskurs bei. Und dieser kann, bei allem Respekt, jede Hilfe brauchen. Cornelius Pollmer

Mit NFTs gegen Kolonialismus

Röntgenbild der Statue eines getöteten belgischen Kolonialoffiziers. (Foto: VMFA/Still from Plantations and Museums)

Während der Weltwirtschaftskrise 1930 zogen das Königreich Belgien und Unilever (damals: Lever Brothers) auf den Palmölplantagen im Kongo die ohnehin schon sehr engen Schrauben an. Das Volk der Pende bekam noch weniger Lohn, die Kolonialsteuern wurden weiter erhöht. Die Arbeitsbedingungen führten zu einem Aufstand, der mindestens 500 Pende das Leben kostete. Auf belgischer Seite gab es nur ein Opfer, den Kolonialbeamten Maximilien Balot. Die Pende fertigten, einer alten Tradition folgend, eine Statue des Toten an. Diese Statue steht heute als bittere Pointe im Virginia Museum of Fine Arts (VMFA) in Richmond, USA.

Zusammen mit dem belgischen Künstler Renzo Martens hat die Kunstliga der Kongolesischen Plantagenarbeiter (CATPC) jetzt einen Weg gefunden, sich sowohl ihr Land als auch ihre Kunst zurückzuholen: Sie splitten das Foto der Statue auf der Website des VMFA in kleine Teile und verkaufen diese als NFTs. Der Erlös fließt in Landrückkäufe und Aufforstung. Die Galerie KOW Berlin zeigt die Fortschritte des Projekts noch bis zum 9. April. Felix Stephan

Essay von Ulrich Wickert: Im Universum der Werte

Ulrich Wickert: Der Ehrliche ist immer der Dumme - über den Verlust der Werte. Hoffmann und Campe, Hamburg 2022. 288 Seiten, 24 Euro. (Foto: N/A)

Die Pandemie warf ein unbarmherziges Licht auf die Verfassung unserer Werte: Während einige bis zur Erschöpfung in Pflege und Vorsorge ackerten, machten Politiker der Union ein kleines Vermögen mit dem Handel der so knappen, so lebenswichtigen Masken. Die einen grübelten Tag und Nacht, wie sie sich selbst und ihre Familie durch diese Zeit bringen, wie sie sich umsichtig und solidarisch verhalten - aber ein Wolfgang Kubicki prahlte mit dem Besuch seiner Stammkneipe. Es gab viele Momente, an denen man an den Titel dieses berühmten Sachbuchs denken musste: "Der Ehrliche ist der Dumme".

Dabei ist Wickerts Essay über den Verlust der Werte 1994 erschienen, in einer anderen Zeit: vor der Globalisierung, dem Internet und den sozialen Medien. Nun wird das Buch mit einem neuen Vorwort wieder aufgelegt, und die Lektüre ist so frisch, als wäre es für die Gegenwart geschrieben.

Manches kann man in der Rückschau auch besser würdigen: Wickert betont den Stellenwert von Glaubwürdigkeit und Vertrauen in der Politik, und in gewisser Weise hat Angela Merkel dafür den Beweis angetreten: Ihr Ansehen zu Hause und in der Welt basiert auf dem Umstand, dass es bei ihr keine Korruption und keine persönlichen Skandale gab. Nach wie vor unterentwickelt sind hingegen die Bereitschaft und die Fähigkeit, über Werte zu sprechen, sie vorzuleben und einzufordern. Zu den hohen Gütern, den Zielen des Lebens in unserer Gesellschaft zählen Wohlstand und Selbstverwirklichung eher als das Vorleben bestimmter Werte. Eigensinn und die Kultivierung eines persönlichen Lebensstils werden höher geachtet als Pflichtbewusstsein und Solidarität. Die soziale Pandemie der zunehmenden Einsamkeit ist eine Folge davon.

Selbst wenn es um aktuelle Politik geht, kommen lange Debatten um die Impfpflicht in Pflegeberufen ganz ohne Verweis auf Werte aus. Und wer traut sich, in geopolitischen Debatten noch daran zu erinnern, dass der Westen im Unterschied zu Russland und China nicht alleine Interessen, sondern Werte zu verteidigen hat?

Insofern ist diese mitreißend geschriebene Erkundung und Rückeroberung des Universums der Werte auch all die Jahre nach Erstveröffentlichung die ideale Begleitlektüre, um den Wahnsinn der Zeit zu verstehen und besser zu ertragen. Nils Minkmar

Jeff Koons: Superheldenauto

Für Leute, denen die Welt ein Kinderzimmerteppich ist: der von Jeff Koons gestaltete BMW. (Foto: Enes Kucevic)

Das Schöne, wenn man ein kleines Kind ist: Man kann Spielzeugautos anmalen, imaginäre Superhelden reinsetzen und sie unter fantastischen Geräuschen über den Teppich schieben. Das Schöne, wenn man Jeff Koons und von Beruf Künstler, also ein großes Kind ist: Man darf das immer noch - und immer wieder. 2010 hat der Amerikaner wie etliche Künstler vor ihm das "BMW Art Car" gestaltet; mit spermoid vorwärts fliegenden Streifen sah es aus, als würde es sich selbst überholen. Das hat Koons offensichtlich keine Ruhe gelassen. Jetzt hat er für BMW eine ganze Edition des M850i xDrive Gran Coupé gestaltet und anlässlich der Frieze Art Fair in Los Angeles vorgestellt: ein blau gestreiftes Superhelden-Mobil mit aufgemalten Auspuffgeräuschen ("Pop") für Leute, denen die Welt noch ein Kinderzimmerteppich ist. In Zeiten von NFTs immerhin fast schon demokratisch: 99 Stück sind zu haben, Preis auf Anfrage. Peter Richter

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