Fünf Favoriten der Woche:Weltuntergang und Regieberserker

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Missbrauch im Namen Gottes: Die Netflix-Doku "Sei lieb - Bete und gehorche" über Warren Jeffs und seinen Missbrauch. (Foto: Courtesy of Netflix © 2022)

Eine Doku über den despotischen Prediger Warren Jeffs, "Hamlet" in Paris, Boris Johnson vor dem Untersuchungsausschuss und ein Song, der Männer das Fürchten lehrt.

Von SZ-Autorinnen und -Autoren

Ganz in den Norden von Arizona, in die abgelegene Siedlung Short Creek vor einem roten Fels, schickte der Prophet Warren Jeffs seine polygame Gemeinde. Die Olympischen Spiele 2002 in Salt Lake City standen an, im für Mormonen heiligen Land Utah. Für die FLDS, den fundamentalistischen Ableger der großen Mormonen-Kirche, den Jeffs bis heute aus dem Gefängnis anführt, bedeutete das mal wieder: Weltuntergang. Rettung nur für die Auserwählten in Short Creek möglich. Also zogen die Familien mit ihren vielen Frauen und Kindern in die Prärie, wo der Prophet sie gut kontrollieren konnte. Die Doku-Serie "Sei lieb - Bete und gehorche" auf Netflix zeigt eindrücklich, wie die Gemeinschaft sich zusehends von der modernen Welt abschottete. Und wie despotisch Jeffs, der selbst rund 80 Frauen ehelichte, mitten in den USA über sie herrschen konnte, Minderjährige in die Ehe zwang und sie missbrauchte. Aurelie von Blazekovic

"Shakespeare: Hamlet". Inszeniert von Peter Brook

Wertschätzende Fokussierung auf überragende Schauspieler, hier: Adrian Lester als Hamlet. Arte zeigt die Inszenierung von Peter Brook. (Foto: P. Victor)

Ein junger Mann, seelisch außer sich vor Zorn, Verbitterung und Trauer. Und doch ganz bei sich, bewunderungswürdig kontrolliert in seinen Worten, seiner Mimik, seinen Taten. Wie Adrian Lester in Paris den Hamlet gespielt hat vor gut 20 Jahren, am Théâtre des Bouffes du Nord, ist nach wie vor faszinierend. Peter Brook hatte das Shakespeare'sche Drama inszeniert und für Arte zudem eine Fernsehfassung seiner englischsprachigen Aufführung gedreht. Die zeigt der Sender nun, aus Anlass von Brooks Tod, noch einmal in seiner Mediathek. Bis einschließlich 5. August ist der besondere, zweieinviertelstündige (und Deutsch untertitelte) Theaterabend zugänglich.

An diesem "Hamlet" sieht man exemplarisch, was Brook zu einem weltweit bedeutenden Theaterschöpfer gemacht hat: seine Konzentration auf das Wesentliche, seine Ernsthaftigkeit im Umgang mit Sprache und seine wertschätzende Fokussierung auf die - überragenden - Schauspieler. In seiner programmatischen Schrift "Der leere Raum" hat er das Theater auf seinen Kern heruntergebrochen: Jeder leere Raum könne zur Bühne werden. Gehe jemand durch diesen Raum und ein anderer sehe ihm dabei zu, so sei das bereits alles, was zu einer Theaterhandlung notwendig ist. Im Umkehrschluss bedeutet dies: Es gibt keine Ablenkung bei Brook, kein Blendwerk. Es liegt allein an den Schauspielern, dass man ihren Figuren glaubt, dass man sich berühren lässt von deren Schicksalen. Die Schauspieler wiederum holen sich das Vertrauen für dieses Wagnis bei ihrem Regisseur, bei Peter Brook.

Oberflächlich betrachtet hat Brook in diesem "Hamlet" gewütet wie die wildesten Berserker des Regietheaters: Er hat viel Text und etliche Figuren aus dem Stück geworfen. Aber nicht, um es sich für eine eigene Agenda zurechtzubiegen. Brook hat bloß all das gestrichen, was von Hamlet ablenkt. Dieser Figur gilt seine gesamte Aufmerksamkeit: ein integrer Mann, der in einer moralisch verkommenen Gesellschaft die Ordnung wiederherstellen soll. Was nur gelingen kann durch einen Mord. Um sein Ziel zu erreichen, müsste Hamlet also vollführen, was er für das Grundübel hält. Ein unauflösbarer Zwiespalt, den Adrian Lester nuanciert und subtil ausstellt, alles Plakative vermeidend. Stefan Fischer

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Schadenfreude

Nach seiner Premierministerschaft, also bald, wird man sich erinnern, dass Boris Johnson ein Mensch ist, dass er für all das - Brexit, Missbrauch, feudalherrschaftliche Covid-Politik - insofern nichts kann, als dass er auch nur Opfer der eigenen Sozialisation ist und dass es Menschen nicht guttut, überprivilegiert aufzuwachsen. Aber für den Moment ist es schön zuzuschauen, wie einer, der sich nur schwer anthropomorphisieren lässt, nach allen Regeln der Kunst gedemütigt wird. Besonders schön zu sehen ist das in der letzten Anhörung vor dem Liaison Committee auf Youtube. Highlights: Als Johnson zugeben muss, sich heimlich mit Ex-KGB-Agenten getroffen zu haben. Oder als er beweisen muss, dass er ausrechnen kann, was 148 plus 32 ergibt. Und dann der Satz: "Ich habe großen Respekt für das Amt des Premierministers, aber ich fürchte, ich habe jeglichen Respekt für Sie verloren." Gorgeous . Nele Pollatschek

Selbstermächtigungs-Hymne

(Foto: Label)

Eine Zufallsentdeckung, aber was für eine: "This Is What It Feels Like", der Song der Sängerin Frally, läuft im hinteren Teil der sehr verstörenden Sky-Doku "Phoenix Rising", in der die Schauspielerin Evan Rachel Wood dem Sänger Marilyn Manson Missbrauch und Vergewaltigung vorwirft. Und eben nicht nur sie. Viele Frauen tun das inzwischen - die grässlichen Erzählungen gleichen einander extrem. Man ist also, zugegeben, emotional schon ein wenig angestachelt, und nun wehen also diese katzenjammerigen Streicher herein, die Chöre, dieser U-Boot-bedrohliche Sub-Bass und die kesseligen Drums. Und darüber dann dieser Text: "Slow down you're on the run / We are many, you are one". Wir sind viele. Du bist allein. Und so fühlt sich das an. This is what it feels like. Irre Kraft, das Ganze. Länger keinen derart perfekt gesetzten Pop-Moment mehr erlebt. Jakob Biazza

Museum Moderne Kunst in Céret

Das Musée d'Art Moderne de Céret, in Ceret, Südfrankreich. (Foto: Knut Knipser/picture alliance / imageBROKER)

Der Palast der Könige von Mallorca steht, anders als es sein Name vermuten lässt, im südfranzösischen Perpignan, das im Mittelalter für ein paar Jahrzehnte die Hauptstadt des Königreichs Mallorca war. Der Palast ist trutzig abweisend und fast völlig leer. Umso mehr überrascht in der alten Kanzlei dann eine kleine Schau mit Bildern von Jean Capdeville (1917 - 2011), er malte gern abstrakt, Schwarz dominiert auf weißen Malgründen, umso stärker wirken breit aufgetragene Farben: Grün, Gelb, Blau, Rot. Die Bilder sind unverkennbar Reflex der Landschaft um Perpignan, das Zentrum des Roussillon, das französische Katalonien, in dem man fast überall die Fahne der Katalanen wehen sieht, deren kräftig leuchtende rot-orange Streifen durchaus kein Fremdkörper wären in Capdevilles Bildern.

Vom Barbakan des Palasts geht der Blick übers ganze Roussillon. Ein sattes dunkles Grün dominiert, sowohl die nahen, mild ins ultramarinblaue Mittelmeer abgleitenden Pyrenäen, als auch die Abhänge des die Region beherrschenden Pic du Canigou, des heiligen Bergs der Katalanen. Das Roussillon ist ein Fest der Farben, das seit über 100 Jahren Künstler anlockt. Am Meer in Collioure hat Henri Matisse sich durch die Farben des Roussillon (die Sonnenauf- und -untergänge sind von einem die ganze Gegend überziehenden Weinrot) zum Fauvismus inspirieren lassen, in Céret unterhalb des Canigou haben Georges Braque und Pablo Picasso von 1911 an den Kubismus vorangetrieben. All das liegt im Umkreis von 30 Kilometern um den Palast von Perpignan.

Collioure wie Céret haben kleine Museen, das letztere ist im ehemaligen Gefängnis des Städtchens untergebracht und wurde gerade um einen Flügel erweitert. Im wiedereröffneten Haus sind vor allem Werke, die dem Haus geschenkt wurden, von Pablo Picasso oder Henri Matisse. Immer wieder kamen Maler nach Céret, die Farben hier sind genauso intensiv wie in Collioure, aber vielschichtiger und mürber als dort. Marc Chagall war da, Chaim Soutine, Aristide Maillol, Joan Miró und sogar Salvador Dalí, der hier eine Riesennonsenseperformance abzog. Alle haben dem Haus Werke geschenkt. All das zeigt dieses grandiose Museum, in dessen zeitgenössischer Sammlung der Besucher dann auch wieder Jean Capdeville begegnet, der lange in Céret lebte, dort starb, und dessen Schwarz hier in der Nähe des Canigou sehr viel kräftiger und todessüchtiger leuchtet als im Königspalast von Perpignan. Reinhard J. Brembeck

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