Am Sonntag, zur Stunde des späten Nachmittagslichts über dem Lido, wird die Filmwelt mit Spannung auf Venedig schauen. Denn der rote Teppich des Festivals gehört dann Fatih Akin, der sein historisches Epos "The Cut" im Wettbewerb präsentiert. Eigentlich sollte der Film schon im Mai in Cannes laufen, nun wird er voller Ungeduld erwartet.
Es geht um ein gewaltiges Thema. Um die versuchte Auslöschung eines Volkes, den Genozid an den Armeniern im Jahr 1915, begangen von den Türken. Und um einen Regisseur, der seine Wurzeln im Volk der Täter hat, aber die Perspektive der Opfer einnimmt. Das ist neu, und es ist nicht ganz ungefährlich. Türkische Nationalisten haben schon gedroht, dass sie dagegen vorgehen werden. "Ich habe nichts anderes erwartet", sagt Fatih Akin.
An der Spitze der großen Filmfamilie, die sich da im Blitzlichtgewitter versammeln wird, dürfte ein 77-jähriger Mann marschieren, der auf seine Art besonders herausragt - durch seine Größe von kaum 160 Zentimetern, seine gewaltige Ringerbrust, seine schlohweißen Haare und die tiefbraunsten, seelenvollsten Augen, die man sich vorstellen kann.
Diese Augen haben in Hollywood alles gesehen, vom Triumph bis zur tiefsten Demütigung. Denn "The Cut" ist auch die Geschichte einer sagenhaften Wiederauferstehung: Mardik Martin, Armenier, in Bagdad geboren, gemeinsam mit seinem Blutsbruder Martin Scorsese durch die "Mean Streets" von New York gegangen, leidenschaftlicher Storyteller und Drehbuchlehrer, ist zurück im Rampenlicht. Als Fatih Akins Co-Autor bei "The Cut", als Geburtshelfer, als Stimme der Weisheit.
Wie das alles kam, fast 35 Jahre nachdem sein Name zum letzten Mal groß über eine Premierenleinwand flackerte? Darüber kann Martin, Ende Juli in Studio City, Los Angeles, noch immer verwundert den Kopf schütteln. Vor dem Fenster seines bescheidenen Apartments liegt im Mittagslicht eine leere Betonschlucht. An ihrem Boden, ganz unten, fließt ein dünnschmutziges Rinnsaal. Es ist der L.A. River, im dritten Monat einer bedrohlichen Dürrezeit.
Drinnen herrscht das Dämmerlicht von Geschichte und Filmgeschichte: Fotos evozieren den Orient zu Kolonialzeiten, Mardiks Vater, Kaufmann und Ölfunktionär für die Briten, steht da in einer Art Phantasieuniform im Bagdad der Fünfzigerjahre, das noch einen König kannte; Filmposter künden von Mardiks großen Triumphen. Eines zeigt Robert De Niros zerstörtes Gesicht in "Raging Bull" - vielleicht noch immer der größte aller Scorsese-Filme.
Mardik Martin, in Bagdad geboren, ging mit Martin Scorsese durch die "Mean Streets"
"Raging Bull" ist auch Mardik Martins Ticket in die Unsterblichkeit. Denn er war der ursprüngliche Autor und die treibende Kraft der Geschichte, die Scorsese über Monate hinweg nicht mal lesen wollte, bevor er dann doch ganz tief einstieg. Der eine heute ein Gott der Cineasten, der andere fast vergessen: Fairness ist hier, in dieser Stadt aus Beton und Träumen, nicht Teil des Deals.
Doch das ist Vergangenheit. Denn jetzt geht es um die Gegenwart, um die Aufregung eines kommenden Filmstarts, um die ewige Frage: Werden die Menschen zehn Dollar (oder Euro) für das bezahlen, was wir uns da wieder ausgedacht haben, werden sie mitfühlen? "Denn sonst", dröhnt Mardiks warme, kräftige Stimme, "war am Ende doch alles umsonst."
Sein Rücken schmerzt, er stützt ihn mit vielen Kissen, aber seine braunen Augen leuchten magnetisch. Sein Leben lang hat er mit Geschichten gerungen, für die Wahrhaftigkeit des Erzählens gekämpft. Und je mehr er dabei lernte, desto klarer sah er auch, was man falsch machen kann. Nämlich jedes Mal fast alles.
Weshalb er auch gar nicht reagiert hat, als im Mai 2012 per E-Mail eine Anfrage aus dem fernen Deutschland kam. Fatih Akin erinnert sich: "Ich habe ihm geschrieben, dass ich seine alten Filme verehre, dass ich Martin Scorsese gut kenne, und dass ich jetzt seine Hilfe brauche könnte, und zwar dringend." Denn "The Cut" sollte auf Englisch gedreht werden, jemand musste noch mal an die Dialoge ran. Aber nicht irgendjemand. "Ich weiß nicht mehr woher, aber ich wusste, dass Mardik Armenier ist. Ich wollte ihn unbedingt dabeihaben."
Als Akin in den Achtzigerjahren in den nicht ganz so rauen Straßen von Hamburg aufwuchs, war "Raging Bull" eine erste, entscheidende Inspiration. Und dann der ganze frühe Scorsese, angefangen bei "Mean Streets". Auch diesen Film hat Mardik Martin mitgeschrieben - Mardik & Marty, damals ein unzertrennliches Duo. Was Akin natürlich nicht entgangen ist. Für ihn war Mardik Martin nie vergessen.