Lieferengpässe in Großbritannien:Made in England

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Britische "Lorries" stehen still - auf einem Parkplatz in Stoke-on-Trent, Staffordshire, Großbritannien. (Foto: Carl Recine/Reuters)

Warum ausgerechnet uns Deutsche der Mangel an Lkw-Fahrern auf der Insel kaum zum Spott anregen sollte.

Von Peter Richter

Waren bei den Matchbox-Autos damals auch Lkw dabei? Die Erinnerung sagt vage: Ja. Aber die Erinnerung sagt auch, dass es, wenn überhaupt, eher langnasige amerikanische "Trucks" waren als flachbrüstige englische "Lorries". Matchbox-Autos waren oft Nachbildungen amerikanischer Sportwagen - vor Augen steht noch der Pontiac Firebird - oder japanischer Pkws. Aber immer und in jedem Fall stand auf dem Blech der Unterseite rasant und kursiv: Made in England.

Jedem Kind, das in den Siebzigern damit auf dem Teppich herumkurvte, musste es so vorkommen, als ob die Briten, wenn schon nicht das Rad, dann aber zumindest das Lenkrad erfunden hatten. Irgendeinen Anteil mochten vielleicht auch die Deutschen gehabt haben, das konnte man alte Menschen gelegentlich sagen hören. Aber wer wollte schon Alte, wenn es Matchbox gab und Autokarten und Formel-1-Poster, die ganz klar die Botschaft vermittelten, dass alles, was rollen kann und cool ist, mit England zu tun hatte. Selbst ein Opel wirkt begehrenswerter, wenn man einfach Vauxhall draufschreibt. Sie hatten dort mit Graham Hill sogar einen Rennfahrer, der es geschafft hat, nicht bei einem Crash im Auto zu sterben, sondern bei einem Absturz mit dem Flugzeug ...

Dann kam der Rest der Popkultur dazu, und wieder: ansaugen, verdichten und zünden. Es gab Zeiten, da hätte in deutschen Radios oder Diskotheken ohne Musik aus Großbritannien nur noch Stille geherrscht. Sogar die Neonazis, die am 13. Februar in Dresden aufmarschierten, um den "angloamerikanischen Bombenholocaust" anzuprangern, marschierten in Doc Martens und Ben-Sherman-Hemden unterm Fred-Perry-Pullunder und Harringtons und Donkey Jackets, alles damals ebenfalls noch "Made in England", von den Jeans und New-Balance-Turnschuhen aus Amerika abgesehen. Die hätten in ihren deutschen Schlüpfern nach Hause schleichen müssen, wenn man sie ihrer verblüffend angloamerikanischen Garderobe entledigt hätte, was übrigens immer das erklärte Ziel lokaler Antifaschisten war, unter denen damals viele ebenfalls dem englischen Skinhead-Look anhingen.

Dann kam die große Britpop-Welle, als all die jungen Männer, die Trainingsjacken trugen und sich als "mates" ansprachen, auf einmal anfingen, die Haare in einer Weise nach vorne zu kämmen, wie das vor dem Auftauchen von Noel und Liam Gallagher hierzulande zuletzt zur Zeit von Caspar David Friedrich in Mode gewesen war. Deren Song "Roll with it" war immerhin ein hilfreicher Ratgeber für jeden von hier, der in Heathrow oder Stansted oder einem der zahllosen anderen Flughäfen von London mit dem Mietwagen in den Verkehr hineinmusste und erst einmal dauernd den Scheibenwischer anmachte, wenn er eigentlich blinken wollte. Linksverkehr ist die eine Sache. Der Hang zum Kreisverkehr eine andere. Die größte Herausforderung war hier stets der "Lorry", der immer genau da hupend um die Kurve geschossen kam, wo sich die Landstraße gerade so schmal durch die Cotswolds schlängelte, dass eigentlich maximal zwei Mini Cooper der Art, wie Mr. Bean einen fuhr, aneinander vorbeikommen konnten. Nicht so groß wie amerikanische Trucks. Aber doch deutlich größer als ein Matchbox-Laster.

Noch nie seien die Deutschen so gebraucht worden, heißt es

Das ist, wie man hört, nun vorerst allerdings vorbei. Keine Fahrer mehr in England. Weil die sonst offenbar zum größten Teil aus Kontinentaleuropa stammen. Zum Beispiel aus Polen. Der Brexit. Die Leute, die man braucht, um das Land am Laufen zu halten, mussten raus, und Briten, die sich den Job freiwillig antun, gibt es zu wenig. Weil die Laster kein Benzin mehr anliefern, sitzen jetzt - may we call it irony? - zunehmend auch die anderen englischen Autos, die nicht mehr "Made in England" sind, auf dem Trockenen. Die Londoner Regierung soll deswegen nun alle nach dem Brexit noch im Land ausharrenden Deutschen angeschrieben haben, ob sie noch einen alten Führerschein der Klasse 3 hätten, weil der zum Führen kleinerer Lkws berechtigte.

Die Deutschen! Auf der Insel heißt es: Noch nie seien die Deutschen so sehr gebraucht worden wie heute. Man müsste, wir müssten über diese Volte der Geschichte nun eigentlich so dankbar sein, man sollte gleich bei Sixt einen Lkw mieten und losfahren. Trotz des Hangs der Briten, an absolut jeder Kreuzung einen Kreisverkehr zu bauen, was in Tateinheit mit Linksverkehr wirklich Wahnsinn ist. Denn beim Achthundertmeterlauf im Stadion oder beim Einkaufen im Supermarkt, selbst im ebenfalls neurotischen und in Kreisverkehre verliebten Frankreich dreht man von rechts kommend linksherum. Das hat, heißt es in den Nachschlagewerken, mit der menschlichen Natur zu tun: Wenn man Leute in der Wüste geradeaus schickt, dann laufen sie in einem großen Linksbogen zurück. Aber nun erging das Angebot ja sicherheitshalber auch nur an solche Deutschen, die es trotz Brexit noch in England aushalten, und nicht an Deutsche in Deutschland.

Die Deutschen in Deutschland sollten sich, statt jetzt tagelang dumm über die Briten zu lachen, still und demütig darüber Gedanken machen, wer bei ihnen eigentlich meistens so die Lkws fährt. Und was hier los wäre, wenn diese Leute einfach eines Tages zu Hause blieben. Weil sie zum Beispiel keine Lust mehr haben, sich in Herrenmenschenton ankeifen zu lassen, wenn sie mit ihren Lkws und Lieferwagen in die Städte fahren, abbiegen und, ja - auch das: anhalten, um all die Dinge abzuladen, die dann in den Bioläden liegen oder online bestellt wurden.

Dazu muss niemand erst Heinz Budes Ausführungen über das neue Dienstleistungsproletariat lesen, obwohl das prinzipiell immer lohnt. Da reicht auch ein Blick in Lokalzeitungen und Wahlprogramme: Wer deutsche Großstädte mit Verkehrsverboten ausdrücklich zu Bullerbüs voller Spielstraßen zurechtidyllisieren will, dem sollten Probleme bei der Implantation restriktiver, rechter Retrofantasien in anderen Ländern weniger zu gackern als zu denken geben.

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