Dokumentarfilm "Eldorado" im Kino:Und wieder sind die Boote voll

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1800 Menschen hat die Besatzung des italienischen Kriegsschiffes San Giusto während der größten Rettungsaktion aus dem Mittelmeer geborgen. (Foto: majestic)

Die Flüchtlings-Doku "Eldorado" ist ein erschütternder Film. Er legt die Strukturen und Zusammenhänge der globalen Waren-, Geld- und Menschenströme bloß - und verknüpft sie mit einer sehr persönlichen Geschichte.

Von Martina Knoben

Es ist eine bittere Pointe, mit der Markus Imhoof seinen Film eröffnet. Dünne, knittrige Rettungsfolie ist da zu sehen. Sie soll Flüchtlinge, die im Mittelmeer geborgen werden, vor Wind und Wetter schützen. Die Folie schimmert golden und entlarvt schon in diesen ersten Bildern von "Eldorado" den trügerischen Glanz Europas, des "Goldlandes", auf das sich der Filmtitel bezieht. Was die Migranten statt des erhofften Wohlstands im Westen erwartet, verfolgt der Dokumentarfilm mit beeindruckender Hartnäckigkeit. Angefangen bei der Rettung der erschöpften, traumatisierten Menschen durch die italienische Marine folgt er der Route der Flüchtlingsströme Richtung Norden. Er begleitet die Registrierung, Nummerierung und Verwahrung der Migranten in Lagern, schließlich die Abschiebung - oder Ausbeutung - der meisten von ihnen.

Es ist ein besonderes Motiv, das den Schweizer Filmemacher antreibt, das ihn penibel recherchieren und gleichzeitig intim erzählen lässt. Als Imhoof ein Kind war, während des Zweiten Weltkriegs, nahmen seine Eltern ein sogenanntes Rotkreuzkind bei sich auf. Es war ein fieser politischer Deal der neutralen Schweiz mit dem faschistischen Italien. Für jeden jüdischen Flüchtling, der über einen italienischen Hafen nach Amerika ausreisen wollte, musste die Schweiz ein unterernährtes italienisches Kind aufpäppeln. Giovanna hießt das Mädchen, das Imhoofs Eltern auswählten - es wurde die erste Liebe des kleinen Markus.

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Die Begegnung mit ihr inspirierte schon Imhoofs Film "Das Boot ist voll" aus dem Jahr 1981, der für den Oscar nominiert wurde. Darin sucht eine Gruppe von Flüchtlingen während des Zweiten Weltkriegs Asyl in der neutralen Schweiz. Der Film ist eine bittere Bilanz der dortigen Flüchtlingspolitik. "In dieser Zeit galt ... die Formulierung: 'Flüchtlinge nur aus Rassegründen gelten nicht als Flüchtlinge', weil es davon am meisten gab", sagt Imhoof. "Heute gilt der Grundsatz: 'Flüchtlinge nur aus sozialer Not gelten nicht als Flüchtlinge', weil es davon am meisten gibt. Das Boot ist wieder voll."

In "Eldorado" verknüpft Imhoof die beiden Zeitebenen, springt zwischen Giovanna und den vielen aktuellen Flüchtlingsgeschichten hin und her. Ein, wie wir spät erfahren, imaginärer Dialog mit der erwachsenen Giovanna, Bilder und Briefe der Kinder begleiten die aktuelle Recherche des Filmemachers. Im Gespräch mit seiner Kinderfreundin reflektiert er, was er sieht: auf dem Seenotrettungskreuzer der Operation "Mare Nostrum", in einem italienischen Erstaufnahmelager oder in den von der Mafia kontrollierten Slums in Süditalien, wo viele landen, die keine Aufenthaltsgenehmigung bekommen haben und illegal im Land bleiben.

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Imhoof hat dort mit versteckter Kamera gedreht, es ist erschütternd, was er dokumentiert. Die Menschen hausen in Hütten ohne Strom und Wasser; die Frauen arbeiten als Prostituierte; die Männer schuften zwölf Stunden pro Tag auf Tomatenplantagen für 30 Euro am Tag, die häufig nicht ausbezahlt werden, die Hälfte bekommt ohnehin der Capo. Und es ist nicht nur die Mafia, die von dieser Sklavenarbeit profitiert, erst diese Billigstlöhne machen die auch bei uns beliebten Tomatenkonserven so günstig. Auf diese Weise mehrt das globale Flüchtlingselend noch den Wohlstand des Westens. Europa mag ein "Eldorado" sein - aber eben nur für Europäer.

Imhoof legt auch weitere Strukturen und Zusammenhänge über die globalen Waren-, Geld- und Menschenströme bloß. Wie perfide das ist, macht das Beispiel eines Schwarzafrikaners deutlich, der sich bis in die Schweiz durchgeschlagen hat. Dort wird Asylsuchenden Geld angeboten, als Anreiz, in ihr Heimatland zurückzukehren. Der Afrikaner schlägt ein und will sich zwei Milchkühe von dem Geld kaufen. Was wie ein fairer Handel aussieht, entlarvt Imhoof jedoch als faulen Deal, bei dem wieder nur der Westen gewinnt. Gegen die subventionierten Milchlieferungen der EU hat der afrikanische Bauer mit seinen afrikanischen Kühen auf Dauer keine Chance.

Seinen vorangegangenen Film "More than Honey", 2012, über das weltweite Bienensterben, begann Imhoof im eigenen Garten. Und diese Verknüpfung von globalen Problemen mit dem eigenen Ich macht nun auch "Eldorado" so spannend. Dieses "Ich" ist ja nicht nur der Regisseur, der in den Gesprächen mit Giovanna (mit der freundlichen Erzählstimme von Robert Hunger-Bühler) über seinen Wunsch zu helfen spricht und daran verzweifelt, dass das Flüchtlingsproblem durch individuelles Helfen nicht zu lösen ist. Imhoof zeigt auch in der Masse der Flüchtlinge immer wieder Individuen. Während die Boat People zu Tausenden auf dem Deck des Seenotrettungskreuzers hocken, ihnen Helfer in Schutzanzügen und mit Mundschutz Nummern ans T-Shirt tackern, um ihrer Zahl Herr zu werden, entdeckt die Kamera von Peter Indergand eine schwarze Flüchtlingsfrau, die ein Kreuzzeichen schlägt, bevor sie das von den Rettern servierte Essen isst, oder die Frau, die mit vor Angst geweiteten Augen die Hand eines Marinehelfers hält.

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Dies ist "das andere Ich", das Imhoof, wie er erzählt, erstmalig als Kind in der Begegnung mit Giovanna kennen und lieben gelernt hat. Es ist die Frau im süditalienischen Flüchtlingsslum, die sorgfältig ihre erbärmliche Hütte kehrt für ein bisschen Würde im Dreck, bevor sie dort Freier empfängt. Oder die Eritreerin Rahel, die Furchtbares auf der Flucht erlebte und nun in der Schweiz als Pflegehelferin arbeitet. In der Begegnung mit ihr unterläuft Imhoof leider der größte Lapsus des Films, wenn er - rhetorisch - fragt, von wem der Zuschauer im Alter lieber gepflegt werden wolle, von Rahel oder einem Pflegeroboter. Dieser utilitaristische Blick auf die Flüchtlingskrise ist aber glücklicherweise die Ausnahme. Vielmehr ist es die Spannung zwischen den skizzenhaften Flüchtlingsporträts und dem so nüchtern dokumentierenden wie wuchtig ikonografischen Blick auf den Flüchtlingsstrom, der Imhoofs Film so eindruckvoll macht und von anderen Flüchtlingsdokus wie "Fuocoammare" von Gianfranco Rosi oder Ai Weiweis "Human Flow" unterscheidet. Moralische Fragen stellen sich hier mit noch einmal verschärfter Dringlichkeit.

Nachdem das Mädchen Giovanna eine Zeit lang bei der Familie Imhoof Zuflucht gefunden hatte, musste es aus politischen Gründen zurück. In Italien ist sie kurze Zeit später, als 14-Jährige, an den Folgen der Unterernährung gestorben.

Eldorado , Schweiz/D 2018 - Regie, Buch: Markus Imhoof. Kamera: Peter Indergand. Schnitt: Beatrice Babin. Musik: Peter Scherer. Verleih: Majestic, 92 Minuten.

© SZ vom 27.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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