Diane Seuss beginnt ihre Gedichtsammlung "Frank: Sonette", die im vergangenen Jahr mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde, mit einem Zitat der legendären Dragqueen Candy Darling: "Das ist mein Stacheldrahtkleid. Schützt das Eigentum, aber nicht vor Blicken." Gleich mit der ersten Zeile setzt Seuss so den Ton für ein Buch, dessen Radikalität sich aus seiner Verletzbarkeit speist.
Seuss, die 1956 in Indiana geboren wurde, einige Jahre in New York, den größten Teil ihres Lebens aber im ländlichen Amerika verbracht hat, schreibt eine Autobiografie in Versen. Das ist allein schon deswegen spektakulär, weil sie mit dem Sonett die vielleicht konservativste aller Formen wählt, um über Armut, Abtreibungen, eine traumatische Geburt, Drogenmissbrauch, die Aids-Krise, häusliche Gewalt und sexualisierte Übergriffe zu schreiben.
Die Sprache, die sie dabei verwendet, ist von einer Lockerheit, einer Direktheit, Mündlichkeit und Konkretion gekennzeichnet, die an Dichter wie Eileen Myles oder Frank O'Hara (der auch gleich im ersten Sonett einen Gastauftritt hat) denken lässt. Bei Seuss bleiben von der klassischen Sonettform im Prinzip nur die vorgegebenen 14 Verse - und selbst die werden so sehr an ihre Grenzen getrieben, dass das ohnehin schon im breiten Cinescope-Format angelegte Buch zur Mitte hin mit ausklappbaren Seiten ausgestattet ist, um ihre formatsprengenden Zeilen halten zu können.
Dabei setzt Seuss eine kaum zu erfassende Vielfalt poetischer Verfahren ein; auf fast jeder Seite geschieht sprachlich etwas Neues. Da gibt es Häufungen von Binnenreimen, die an die Couplets des Shakespeare-Sonetts erinnern, aber auch zahlreiche Klang- und Wortwitze, und immer wieder einen Flow von Assoziationen, der unterschiedlichste Szenen und Erinnerungen dichtführt.
Doch trotz der handwerklichen Fähigkeiten ihrer Autorin bleiben die Gedichte unprätentiös: Man kann sie lesen und von ihnen bewegt werden, ohne eine einzige der literarischen Anspielungen zu verstehen. Das ist möglich, weil Seuss zugleich in jedem Gedicht, dem Titel des Buches entsprechend, "frankly", also "freiheraus" oder "direkt", von gelebter, körperlicher Erfahrung spricht: "Das Sonett lehrt dich, wie die Armut, was du alles nicht brauchst. Einen / Wunsch, wie meine Mutter sagt, in der einen Hand haben und / Scheiße in der anderen."
Jesus tritt in diesen Sonetten auf als "der daddy-hafteste Daddy-Typ von allen", der dafür zuständig ist, diejenigen zu bestrafen, die Glück haben, damit "wir anderen uns besser fühlen"; von den Stars der Siebziger und Achtziger, die Seuss traf, wie Andy Warhol, William Burroughs oder Lou Reed, schreibt sie: "hinterher / fühlte ich mich immer unsichtbar oder gefickt, so richtig gefickt, / gefickt von einem Freier, der am Ende nicht zahlen will / und auch kein Trinkgeld gibt, es war nicht beeindruckend, nicht / literarisch, nicht erregend, ich hoffe es erregt dich nicht, ihr Frauenhass / war unbestreitbar".
Dann wieder führt sie Sprache und Körper so eng, dass sie fast eins zu werden scheinen: "sich aus dem / kratzigen Pullover der Metapher schälen, Körper, Brüste, Vulva, / kleine Höhle des Uterus, Klit, brauchen, berühren, kommen, ich / kam, bevor mir kam, was kommen ist, fünfhebiger Jambus, fühlte / ich es".
Das Unerträgliche, Herzzerreißende kommt in diesen Sonetten lapidar und großartig daher
Auch die Armut ist in Seuss' Gedichten keine Metapher, sondern ein reales, am eigenen Körper erworbenes Wissen; die Körperlichkeit, die ihnen innewohnt, bezieht ihre Unbedingtheit aus der Nähe zum Tod - und zu (Nutz-)Tieren, deren Geburt und Schlachtung, deren Wärme und Todesangst Seuss mit derselben beiläufigen Verzweiflung beschreibt: "Es ist ein Fehler ihnen Namen zu geben aber Kinder geben sogar Steinen Namen".
So kommt das Unerträgliche, Ungerechte und Herzzerreißende in ihren Sonetten gleichzeitig lapidar und großartig daher, etwa, wenn sie sich erinnert, wie sie einen brennenden Supermarkt beobachtete, während sie mit der Tochter des Besitzers saure Gurken aß: "Sie war aufgedreht, Leute werden so, / wenn ihr Leben in Flammen aufgeht."
Oder wenn sie um Mikel Lindzy trauert, einen geliebten Freund, der in der Aids-Krise starb und vom dem sie festhält: "Du warst fordernd in deinem Sterben und doch höflich gegenüber meiner Angst (...). Aus dem Blauen sagtest du, wenn du tot wärst, würde / ich nie wieder Blue hören können von Joni Mitchell (...). / Es war ein kleiner Fluch, den du über meine Schultern legtest wie ein blau gefärbtes Fell, und so höre / ich es jetzt dir zum Trotz."
Franz Hofner, der Seuss' Gedichte ins Deutsche gebracht hat, gelingen immer wieder wunderbare Übertragungen, vor allem bei Sonetten, die aus einem einzigen Satz bestehen oder mit einer solchen Menge an Binnenreimen arbeiten, dass man ihre Übersetzung spontan für unmöglich halten würde. An anderen Stellen wirkt seine Variante von Seuss umständlich oder sogar unverständlich, weil er so wörtlich am Original bleibt, dass dessen Sinn - und leider oft auch dessen Flow - verloren geht.
Am meisten Freude macht dieses Buch darum, wenn man es in beiden Sprachen liest - was möglich ist, weil der Maro-Verlag es großzügig als zweisprachige Ausgabe angelegt hat, sodass die Leserin ihre eigenen Wege finden kann zu Seuss' "unfussy definition of the Sublime", ihrer "schnörkellosen Definition des Erhabenen": "Etwas, in das ich mich verbeißen kann / wie in das feste Fleisch eines Tiers, dem letzten seiner Art."