Ein Bilderbuch über Geräusche, ein Comic über ein undefinierbares Haustier, ein Versroman und ein Sachbuch über Queerness. Wenn eine Literaturpreisverleihung in einer politischen Weltlage wie der momentanen stattfindet, hat man immer kurz das Gefühl, aus der Zeit zu fallen. Manche Themen, die noch vor zwei Wochen die Debatten prägten, wie etwa geschlechtliche Vielfalt, scheinen durch den brutalen Angriff der Hamas auf Israel plötzlich in den Hintergrund gerückt. Wenn man im großen Saal der Frankfurter Buchmesse bei der Verleihung des Deutschen Jugendliteraturpreises sitzt, drückt dazu jeder Gedanke an Kinder zusätzlich schwer aufs Herz. Weil so viele gerade so Furchtbares erleiden müssen.
Die große Gala, auf der im größten Saal der Frankfurter Buchmesse alljährlich der Deutsche Jugendliteraturpreis verliehen wird, ist nie eine unpolitische Veranstaltung. Das verhindert schon die Anwesenheit der Bundespolitik: Der Preis wird seit 1956 vom Bundesfamilienministerium gestiftet, in Frankfurt verlieh ihn am Freitagabend Bundesministerin Lisa Paus. In den Reden geht es immer um die Lage der Kinder im Land, die der Bildung, der Lesefähigkeit, des kulturellen Lebens. Und so war es auch in diesem Jahr, in dem die IGLU-Studie gerade nachgewiesen hat, dass jedes vierte Kind in Deutschland die Grundschule verlässt, ohne richtig lesen zu können.
Bildung:Lesen fürs Leben
Alarmierende Zahlen zeigen, dass viele Grundschüler selbst an einfachen Texten scheitern. Was muss sich ändern, damit die Nation das Lesen nicht verlernt?
Und dann war da eben noch die sich ständig verdüsternde Weltlage. Ralf Schweikart, Vorsitzender des Arbeitskreises Jugendliteratur, der die Preisvergabe organisiert, verurteilte den barbarischen Überfall der Hamas auf Israel - er sei nicht relativierbar und eröffne ein neues Kriegsgebiet. Muss eine Vergabe von Preisen, über die weitgehend vor dieser schlagartigen Verdüsterung entschieden wurde, notwendig schräg stehen zur tagesaktuellen Lage? Ja - und nein. Denn mit guten Büchern ist es ja so: Wenn sie das Menschliche mit Klugheit und Gefühl schildern, können sie nicht unpassend sein. Und so ist es im Fall der Bücher, die eine Jury aus Literaturwissenschaftlern und -vermittlern in diesem Jahr ausgezeichnet hat.
"Spinne spielt Klavier" macht aufmerksam für die Töne der Welt
Zum Beispiel das Bilderbuch über Geräusche, das mit dem Preis für das beste Bilderbuch ausgezeichnet wurde und dessen Konzept erst einmal paradox klingt. "Spinne spielt Klavier" (Carlsen) heißt es, der Illustrator Benjamin Gottwald hat es gezeichnet und es ist ein Bilderbuch, das fast ganz ohne Worte auskommt. Jede Seite stellt ein anderes Geräusch dar, das Trappeln von Pferdehufen, zwei Fliegen, die um einen Haufen schwirren, ein rollender Felsen, ein Mann, der niest. "Spinne spielt Klavier" ist bunt, plakativ, lustig. Kein Leser, ob ganz klein oder schon groß, kann sich beim Blättern des Reflexes erwehren, Laute zu machen, zumindest im Kopf. Und: Es macht aufmerksam für die Töne der Welt, auf das Leise und das Laute, es öffnet über die Augen die Ohren.
Als bestes Kinderbuch wurde "Boris, Babette und lauter Skelette" von Tanja Esch prämiert. Der temporeiche, knallig gezeichnete Comic aus dem kleinen Hamburger Kibitz Verlag erzählt von einem Haustier namens Babette, das kleinkindgroß, weder Hund noch Katze ist, sprechen kann und eine große Sehnsucht danach hat, endlich irgendwo dazuzugehören. Als der Junge Boris sich um es kümmern muss, stürzt ihn das in eine Zeit trubeliger Fürsorgearbeit - denn Babette will sich möglichst ständig gruseln. Es wird nicht leichter für Boris, als die Identitätskrise von Babette sich verschlimmert.
Chantal-Fleur Sandjon bekam für ihren vielgelobten, formal hochoriginellen Versroman "Die Sonne, so strahlend und schwarz" den Preis für das beste Jugendbuch verliehen. Er handelt von einer jungen schwarzen und queeren Frau, die unter prekären Umständen in Deutschland aufwächst. Sandjon vermittelt die harten Themen ihres Romans wie Rassismus, elterliche und polizeiliche Gewalt und schwarze Geschichte elegant und, ja, leichtfüßig. Auf vielen seiner Seiten läuft die Schrift nicht klassisch von links nach rechts, sondern in Schnörkeln, Kreisen oder längs zur üblichen Leserichtung. Die Arbeit am Satz habe sie, das Lektorat und die Hersteller viele Nächte an Arbeit gekostet, sagte Sandjon auf der Bühne, nachdem Bundesfamilienministerin Lisa Paus ihr die Momo-Trophäe überreicht hatte.
Paus, die an diesem Abend sehr häufig konkrete Aufträge von Preisträgern und Festrednern für ihre politische Arbeit bekam, fragte Sandjon, was in ihren Augen am drängendsten sei, um die Situation von Minderheiten in Deutschland zu verbessern: "Raum zu machen für Begegnungen", sagte die Schriftstellerin darauf, denn Begegnungen seien es, womit Menschen Ängste und Vorurteile am besten genommen werden könnten.
Als bestes Sachbuch wurde das Handbuch "Queergestreift. Alles über LGBTIQA+" (Hanser) ausgezeichnet. Die Autorin Kathrin Köller und die Illustratorin Irmela Schautz klären darin über rechtliche, soziale und gesundheitliche Fragen zu Queerness-Themen auf. "Ihr müsst nicht alles verstehen. Aber ihr müsst Respekt haben", war die Botschaft der Illustratorin am Ende ihrer Danksagung.
Wie Lüge und Hass entstehen
Sehr konkret wurde der Bezug des Abends zur Tagespolitik, als die Jugendjury ihre Preisentscheidung auf der Bühne bekanntgab. Die Jugendlichen aus mehreren deutschen Leseclubs prämierten "Als die Welt uns gehörte" von der britischen Autorin Liz Kessler (S. Fischer). Der Jugendroman spielt in Wien, in den Jahren von 1936 bis 1945, die Lebenswege von drei Jugendlichen werden durch Judenverfolgung, Holocaust und den Zweiten Weltkrieg brutal getrennt. An Stelle der Autorin nahm die Übersetzerin Eva Riekert den Preis entgegen und wies sichtlich bewegt auf die Aktualität des Buchs hin: Es versetze seine Leser "in eine Zeit, die uns jetzt wieder vor Augen steht".
Nachdem die Schriftstellerin Annika Büning ("Nordstadt") den Preis für Junge Talente entgegengenommen hatte, wurde zum Schluss der Preisverleihung der Autor Alois Prinz für sein Gesamtwerk ausgezeichnet. Prinz hat Biografien über historische Figuren wie Simone de Beauvoir, Ulrike Meinhof, Hermann Hesse, Joseph Goebbels und zuletzt über Franz von Assisi geschrieben. Zur Gegensätzlichkeit der Menschen, über die er schreibt, sagte Prinz, dass man auch aus dem Leben eines Propagandisten wie Goebbels viel lernen könne - nämlich, wie Lüge und Hass entstehen und wie man verhindern kann, dass sie alles andere verdrängen. Ob er selbst ein Idealist sei, ein Utopist wie Hesse oder Assisi, fragte ihn Moderatorin Vivian Perkovic, die kraftvoll und heiter durch den Abend führte. Prinz bejahte: "Wenn wir keine Ideen haben, die in der Zukunft liegen, können wir auch nicht handeln."