Vor wenigen Tagen publizierte Tom Wheeler, der ehemalige Leiter der US-Regierungskommission für Kommunikation (FCC), einen Essay, in dem er die Ansicht vertritt, dass der rasante Internetkapitalismus die Demokratie auf den Prüfstand stelle. Die technologiegetriebenen Veränderungen produzierten Anforderungen nach Sicherheit und Stabilität, die eine Gefahr für die liberale Demokratie und den Kapitalismus selber darstellten. "Wenn Veränderungen mit der Geschwindigkeit von Gigabits attackieren, beschleunigt sich die Suche nach Lösungen."
Es dauerte 125 Jahre, bis das Telefon eine Milliarde Menschen anschloss. Das Android-basierte Smartphone habe dies in weniger als sechs Jahren geschafft. Nun ist das Lamento über eine angeblich zu langsame Demokratie, die nicht mit dem technischen Fortschritt Schritt hält, gerade aus dem libertären Lager, nicht neu. Die Rhythmen von Demokratie und Kapitalismus waren schon immer unterschiedlich, und die Tatsache, dass ihre Entwicklung zum Teil Hand in Hand ging - man könnte sogar argumentieren, dass die Demokratisierung durch kapitalistische Produktionsweisen wie die Dampfmaschine beschleunigt wurde -, ist ein Beleg dafür, dass beide Systeme nicht per se inkompatibel miteinander sind. Dass die Mühlen der Verwaltung langsamer mahlen als die Maschinen der Industrie, ist systemtheoretisch gedacht noch kein Defekt der Demokratie, solange der Primat der Politik intakt ist und Politik Regeln setzt.
Man kann auf Facebook alles liken, aber nur alle paar Jahre ein Kreuz auf dem Wahlzettel machen
Die digitale Revolution hat aber eine ganz andere Dimension als die vorherigen (industriellen) Revolutionen, weil hier nicht nur Autoteile am Fließband produziert werden, sondern auch Meinungen und Stimmungen, die über algorithmische Förderbänder in das politische System eingespeist werden. Mit jedem Tweet, mit jeder Google-Suche wird eine Forderung an das politische System herangetragen, die dieses aufgrund der Datenmenge - jede Minute werden 350 000 Tweets abgesetzt - kaum zu verarbeiten mag. Die Explosion des Meinens und Wollens, welche durch algorithmische Feedbackschleifen forciert wird, führt dazu, dass der politische Motor überhitzt und das System überfordert ist.
Man kann auf Facebook alles liken, aber nur alle paar Jahre sein Kreuz auf dem Wahlzettel machen. Diese Desynchronisation von Stimmungen und Stimme verfestigt ein Gefühl, dass sich die Welt immer schneller dreht, politisch jedoch alles stillzustehen scheint. Datenpakete werden in Bruchteilen von Sekunden um den Globus gejagt, ohne dass man in den Rechenzentren die Vektoren, welche politische Bewegungen lenken - der Protest der Gelbwesten in Frankreich wurde durch einen Algorithmus gepusht - noch identifizieren könnte. Die Bewegung hatte ihren Ursprung in einer Facebook-Gruppe, die gegen eine Geschwindigkeitsbegrenzung und die höhere Besteuerung fossiler Kraftstoffe protestierte.
Politik ist heute ein Bewegtwerden durch Datenpakete. Das kollektive Gefühl von Ohnmacht entsteht ja gerade dadurch, dass in obskuren Rechenzentren die Betriebstemperatur der politischen Arena in den Demokratien Europas, den USA und andernorts eingestellt wird. Daten sind die Treiber des politischen Systems, und dessen Repräsentanten reagieren wie Getriebene. Überall hört man, die Politik müsse "liefern", als wäre Politik ein Bestellservice, bei dem man einen Knopf drückt und noch am selben Tag die Ware an die Haustür geliefert bekommt. Wenn es heißt, die Bundesregierung wolle die Asylverfahren "beschleunigen", klingt das so, als würde man Datenpakete von A nach B transferieren, als könne man Migration, die ja auch eine politische Bewegung ist, mit mehr Geschwindigkeit zurückdrängen.
Der französische Philosoph Paul Virilio schrieb in seinem Werk "Geschwindigkeit und Politik" (1980): "Die letzte Macht wäre also weniger die der Fantasie, als die der Vorausplanung bis zu dem Punkt, wo Regieren nur noch Voraussehen, Simulieren und Speicherung der Simulationen ist. Der Verlust des materiellen Raumes führt dazu, dass nur noch die Zeit regiert wird; das Ministerium der Zeit, das in jedem Vektor skizziert ist, wird schließlich in der Dimension des größten je dagewesenen Vehikels den Vektor-Staat vollenden."
Das, was in der politischen Arena verhandelt werden sollte, wird in opaken Maschinenräumen gesetzt
Die datenanalytischen Prognosetechniken, mit denen Regierungen Einbruchskriminalität oder Kindesmissbrauch prognostizieren wollen, sind in dieser Logik lediglich Verfallsformen der Macht, ein bloßes Simulieren, das davon ablenken soll, dass der Raum gar nicht mehr regiert werden kann und Gegenwartskontrolle sowieso nicht mehr möglich ist.
Das Legitimationsproblem liberaler Demokratien ist mithin auch ein zeitliches. Der amerikanische Politikwissenschaftler William E. Scheuerman identifizierte in seinem Buch "Liberal Democracy and the Social Acceleration of Time" (2004) ein Missverhältnis zwischen der relativen Langsamkeit liberaler Demokratien und den Highspeed-Dynamiken des Spätkapitalismus. "Langsame deliberative Gesetzgebungen (...) passen schlecht zu den Imperativen der Geschwindigkeiten, wogegen antiliberale und antidemokratische Trends davon profitieren." Wer denkt hier nicht an Trump und Twitter? Der US-Präsident regiert mit dem Instrument des Tweets, der den Charakter eines Dekrets hat.
Scheuerman verweist ausgerechnet auf Carl Schmitt, einen Verächter des Parlamentarismus, der in seinen Schriften vor den Gefahren eines "legalitären Technizismus" sowie den "steigenden Motorisierungen der Gesetzgebungsmaschine" warnte. Wenn Verordnungen ein "motorisiertes Gesetz" sind, dann sind die durch den Code herbeigeführten Änderungen der Newsfeed- oder Timeline-Algorithmen eine motorisierte Gesetzgebung, welche deliberative Verfahren umgeht und positives Recht setzt. Die Populisten sind auch deshalb so erfolgreich, weil sie diese Mechanik virtuos bedienen.
Der Like-Button galt mal als ultimatives direktdemokratisches Werkzeug: Man muss nur einen Knopf drücken, schon läuft die Politmaschinerie. Netzaktivisten sprachen wahlweise von einer Knopfdruck-Demokratie oder "Klickokratie", einer plebiszitären Herrschaft des Klicks, welche autoritäre Regime unterminieren.
Doch die datengetriebenen Abstimmungsprozesse torpedieren in ihrer Hyperaktivität und Hochgeschwindigkeit partizipative Verfahren. Mit jedem Klick, jedem Like heizt man die Regelkreisläufe neu an.
Wenn man etwa die Frage "Soll ich AfD wählen?" im Netz sucht, erscheint neben der Anzahl der Ergebnisse - derzeit gibt es an die vier Millionen Googletreffer, was suggeriert, es gäbe dafür tatsächlich Millionen Gründe - auch die Zeit, welche die Suche dafür benötigt hat: 0,35 Sekunden.
Als wäre Geschwindigkeit ein Gütekriterium für die Validität politischer Suchbewegungen. Es geht im Informationskapitalismus darum, mit immer höherer Rechenpower immer schneller Ergebnisse zu produzieren. Deliberation braucht dagegen Zeit, Ruhe und vor allem Verbindlichkeit.
Die Frage lautet, wie sich diese temporale Unvereinbarkeit einer diskursiven Öffentlichkeit auf der einen Seite und automatisiertem Agenda-Setting auf der anderen Seite auflösen lässt. Ist Demokratie zeitlos, wie ihre Gründungsväter annahmen? Oder ist die Demokratie eine überkommene Hardware, die man besser mit der richtigen Software updatet? Kann ein alle vier oder fünf Jahre gewähltes Parlament noch responsiv sein, wenn der mit Kontrollknöpfen und Like-Buttons ausgestattete Wähler permanent Signale an das politische System sendet? Soll man, den Forderungen des Akzelerationismus folgend, die Datenproduktion beschleunigen, um das Zeitdiktat der Algorithmen im Kapitalismus zu brechen?
Algorithmen üben eine raumzeitliche Kontrolle über den Alltag aus. Sie lernen anhand historischer Daten, welche Produkte man morgen kauft, welchen Partner man datet und welche politische Partei man wählt. Sie sorgen damit für eine Entzeitlichung und Stauchung politischer Prozesse, weil das, was in der politischen Arena verhandelt werden sollte, in opaken Maschinenräumen bestimmt wird. Je stärker die Ergebnisse determiniert sind, desto mehr schrumpft der politische Raum. Es scheint, als habe die Repräsentationskrise der Demokratie ihre Ursache auch darin, dass man sich von virtuellen Assistenten, die einem sekündlich das eigene Denken bestätigen, besser repräsentiert fühlt als von Volksvertretern.
Gleichwohl: Es wäre fatal, die Zeitstrukturen politischer mit denen algorithmischer Systeme gegeneinander auszuspielen. Parlamente werden nie mit der Geschwindigkeit des Internets mithalten können. Sie können aber Tempolimits und Leitplanken setzen - sowohl regulativ als auch diskursiv, indem sie durch Debatten dafür sorgen, dass der Bürger nicht mehr der Bewegte seiner Daten, sondern seiner Überzeugung ist.