"Das ist unser Land":Wenn Rechtspopulismus in die hintersten Ritzen des Alltags dringt

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Nicht rechts, nicht links, sondern nur französisch: Catherine Jacob als Parteichefin Agnès Dorgelle. (Foto: Alamode)

Der Film "Das ist unser Land" über den französischen Front National zeigt, wie Radikalisierung ensteht. Kein Wunder, dass FN-Politiker den Film als "skandalös" bezeichnen.

Von Alex Rühle

Das europäische Haus steht plötzlich sehr windschief in der Welt, überall ächzt und knirscht es. Als durchschnittlicher Untermieter denkt man jedes Mal, wenn ein neuer Hilfspfosten eingezogen wird, puh, okay, hält fürs Erste, und macht die Tür zu. Dahinter fault und knirscht es weiter.

Frankreich zum Beispiel. Wahlen vorbei, Marine le Pen verhindert, uff und Wiedersehen in fünf Jahren. Aber was ist mit den 40 Prozent, die im ersten Wahlgang entweder für die Kandidatin des Front National gestimmt oder gar nicht gewählt haben? Oder mit allen, die hoffnungsfroh Emmanuel Macrons vermeintlich so volksnaher Retortenbewegung En Marche ihre Stimme gaben, aber nach hundert Tagen merken, dass es mit dem versprochenen Aufbruch erst mal doch nichts wird, zumindest nicht für sie?

Der netteste Mensch gehört zum inneren Zirkel der "Nationalen Volksbewegung"

Hénart. Ein Städtchen in der Nähe des Ärmelkanals. Im Morgengrauen zu Beginn des Films sind die Straßen leer wie nach einem Neutronenbombenabwurf. Nur auf der Autobahn, dieser Wirtschaftsaorta, die London mit Paris verbindet, herrscht reger Verkehr, aber hier biegt bestimmt keiner ab, wozu auch, es gibt ja doch nur Felder, Arbeitslosigkeit und alte Menschen, die darauf warten, dass Pauline Duhez bei ihnen vorbeischaut. Pauline ist ambulante Krankenschwester, ein harter Job, aber immerhin ein Job. Nebenbei zieht sie alleine zwei Kinder groß und kümmert sich um ihren Vater, der nur noch in den Fernseher stiert, in dem man entweder schwarzgewandete Islamisten oder schwarzmalerische Kommentatoren sieht.

Frankreich
:"Die Linke müsste meine Eltern ansprechen, ohne soziorassistisch zu sein"

Der französische Schriftsteller Édouard Louis ist schwul und links, seine Eltern "reaktionär, misogyn und homophob", wie er sagt. Trotzdem kann er verstehen, warum sie am Sonntag den Front National wählen wollen.

Interview von Alex Rühle

Der netteste Mensch, dem Pauline auf ihrer Tagesroute einmal quer durch Entropie und Einsamkeit begegnet, ist Dr. Berthier, ein großbürgerlich-soignierter Arzt mit schneeweißem Haar und einer Stimme, so weich wie ein Ölbad. Pauline kennt ihn von klein auf, er stand ihr bei, als ihre Mutter starb. Was sie nicht weiß: Der Allgemeinarzt ist gleichzeitig Spindoktor, er gehört zum innersten Zirkel der "Nationalen Volksbewegung" - und die freundliche Pauline passt perfekt in sein Beuteschema, eine unbescholtene junge Frau, die hart arbeitet und in der Gemeinde verwurzelt ist.

Als er ihr vorschlägt, für das Bürgermeisteramt zu kandidieren, ist sie erst perplex, schließlich hat sie noch nie gewählt, rechts, links, was habe das alles mit ihr zu tun. Ja eben, sagt Berthier, wir sind weder rechts noch links, wir sind nur französisch. Und da Agnès Dorgelle, die Parteichefin, mit aller Kraft versucht, sich von ihrem extremistischen Vater abzusetzen, um endlich die bürgerliche Mitte zu erobern, wäre Pauline ein ideales Aushängeschild.

Hénart erinnert schon vom Namen her an Hénin-Beaumont, das Städtchen im Départment Pas-de-Calais, in dem seit 2014 ein FN-Bürgermeister regiert, und in dem Marine le Pen bei den Präsidentschaftswahlen in der zweiten Runde 60,52 Prozent erhielt, ihr bestes Ergebnis. Auch sonst ähnelt von der blonden Parteimatrone bis zum Slogan "Weder rechts noch links" so vieles dem Front National, dass sich der FN-Parteivize Florian Philippot im Februar, als "Chez Nous" in Frankreich anlief, empörte, es sei "skandalös", dass dieser "Anti-FN-Film" mitten in der Präsidentschaftskampagne erscheine. Ein Abgeordneter bezeichnete den Regisseur Lucas Belvaux als Goebbels-Schüler, ein bretonischer Regionalchef der Partei ergänzte voller Verachtung für die urbane "Bourgeois-Bohème", es handle sich um einen "Bobo-Film mit Bobos für Bobos" - womit er insofern recht hatte, als die Gesichter der meisten mitwirkenden Schauspieler eher aus großen Arthausfilmen bekannt sind: Émilie Dequenne, die die anfangs so scheue, aber gerade deshalb sehr charismatische Pauline spielt, wurde durch ihre Zusammenarbeit mit den Brüdern Dardenne berühmt. André Dussollier stand schon in so vielen filmgeschichtlich mondänen Rivette-, Rohmer- und Resnais-Dekors herum, dass sein erster Auftritt in diesen ärmlichen nordfranzösischen Räumen tatsächlich einen surrealen Überraschungsmoment hat. Ach so, das ist gar nicht André Dussollier, sondern Dr. Berthier, na mal sehen ...

Zwei Dinge machen diesen Film zu einer solch interessanten soziopolitischen Studie, dass er über die ohnehin schon nicht mehr tagesaktuelle französische Situation hinausreicht. Zum einen zeigt er nebenbei, was es bedeutet, wenn sich der Staat aufgrund immer neuer Sparmaßnahmen aus der Fläche des Landes zurückzieht: Der alte Mann, der einen der letzten Läden in der Stadt betreibt und seine demente Frau nicht ins Heim in Lille geben will, weil die Busverbindung dorthin zusammengestrichen wurde und er sie deshalb nicht mehr besuchen könnte - wie soll sich so jemand nicht ausgeschlossen fühlen? In dieser Ödnis, in der früher Kohle, aber heute nur noch Arbeitsplätze abgebaut werden, konnte der Rechtspopulismus in die hintersten Ritzen des Alltags eindringen, sodass er jedes Sonntagsbarbecue unter Freunden bestimmt.

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Zum anderen hat der belgische Regisseur Lucas Belvaux die Sprache der neuen Rechten gut studiert. Um die gemäßigte Mitte zu gewinnen, verpacken Berthiers alerte Mitarbeiter die alte Botschaft in identitärem Neusprech. Zapfen den Hass der Leute an, hören ihren Tiraden verständnisvoll zu. Wenn diese dann aber vom "Kanakenpack" sprechen, reden die neuen Rechten lieber von der autochthonen Bevölkerung und vom "Großen Austausch", einer Theorie darüber, dass die europäische Bevölkerung und die französische Kultur durch die und das Fremde ersetzt werden sollen.

Hat Lucas Belvaux Angst vor der verführerischen Kraft des rechten Denkens?

Und wir erobern für euch unser schönes altes Land zurück. "Das ist unser Land" ist angelehnt an den Kriminalroman "Der Block", in dem der Schriftsteller Jérôme Leroy die nächtlichen Gedankenströme zweier Rechtsextremer gegeneinander geschnitten hat. Das Buch hatte deshalb einen geradezu diabolischen Sog, weil es darin keinen auktorialen Erzähler gibt, der als moralischer Puffer dienen könnte, sondern nur zwei einander abwechselnde Monologe, den eines intellektuellen Strippenziehers, der kein stumpfer Ideologe, sondern ein rundum charmanter, zynischer Dandy ist. Sein Gegenspieler ist ein alter Freund, ein Nazischläger, der jetzt beseitigt werden muss, damit die Partei ihr Schmuddelimage loswird. Wer einmal eine Nacht und 250 Seiten mit diesen beiden exemplarischen Charakteren verbracht hat, versteht, warum die Rechte für viele so attraktiv ist.

Hatte Lucas Belvaux am Ende doch Angst vor der verführerischen Kraft des rechten Denkens? Hat er in eineinhalb Stunden nicht genug Zeit, seine Charaktere zu entfalten? Jedenfalls erzählt er seine Geschichte nach der beklemmend authentischen Exposition recht konventionell herunter. Pauline verliebt sich in den Fußballtrainer ihres Sohnes. Der aber hat eine Vergangenheit als Prügelnazi. Der eingangs so verführerisch sanftpfotige Berthier wird, sobald Pauline erste Zweifel an der Kandidatur kommen, zum maskenhaft starren Strippenzieher, der nur noch seine Parteidoktrin abspult. Beide Männer schweigen oft knorrig in die Kamera. Klar, Gesichter sind Landschaften, aber es ist dann auf Dauer doch interessanter zu lesen, was hinter einer Stirn so abgeht, als nur diese Stirn anzuschauen.

Chez Nous , Frankreich/Belgien 2017 - Regie: Lucas Belvaux. Drehbuch: Lucas Belvaux und Jérôme Leroy. Mit Émilie Dequenne, Catherine Jacob, André Dussollier, Guillaume Gouix. 118 Minuten.

© SZ vom 23.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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