Pandemie-Politik:Es braucht eine Umgangsroutine mit dem Coronavirus

Pandemie-Politik: Einfach zu Hause bleiben genügt nicht mehr: Ein Mann vor einem geschlossenen Pub in London.

Einfach zu Hause bleiben genügt nicht mehr: Ein Mann vor einem geschlossenen Pub in London.

(Foto: AFP)

Risiken, auch tödliche, sind im Alltag eingepreist - im Straßenverkehr, beim Sport, bei der Ernährung. Nun braucht es die Abwägung in der Pandemie. Und damit viel individuelle Verantwortung.

Von Nicolas Freund

Robert Musils Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" beginnt mit einem Unfall: Auf einer Straße in Wien kommt es zum Zusammenstoß eines Lasters mit einem Fußgänger. Inmitten einer Traube Schaulustiger beobachten auch ein Herr und eine Dame das Geschehen nach dem Unglück. Man weiß nicht, was man mit dem "Mann, der wie tot dalag" anfangen soll. Der Herr ordnet das Geschehene schließlich ein: "Diese schweren Kraftwagen, wie sie hier verwendet werden, haben einen zu langen Bremsweg."

Das Ereignis, das aus der Sicht des Paares so überraschend eintrat, wurde damit irgendwie begreiflich gemacht. Schon trifft auch der Rettungswagen ein, das Paar kann seinen Stadtspaziergang fortsetzen, und die Begleiterin "hatte noch immer das unberechtigte Gefühl, etwas Besonderes erlebt zu haben".

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Dieser Romananfang zeigt exemplarisch, wie Individuen und Systeme - in diesem Fall Stadt, Verkehr, Gesellschaft - mit einer Abweichung von vorgesehenen Abläufen umgehen. Denn der Unfall war keineswegs unvorhersehbar. Wie der Herr in dem Roman weiß, wurden damals, im Jahr 1913, "jährlich durch Autos 190 000 Personen getötet und 450 000 verletzt". Was dem Paar als besonderes Ereignis erscheint, das erklärt werden muss, ist im System des Straßenverkehrs und der städtischen Infrastruktur längst vorgesehen. Sonst wäre nicht nach wenigen Minuten der Rettungswagen zur Stelle. Das Risiko des Autounfalls ist einkalkuliert. Das ist jetzt gerade so aufschlussreich, weil sich abzeichnet, dass in den kommenden Monaten und Jahren neben den gewohnten Gefahren des Straßenverkehrs und anderer Bedrohungen im Alltag mit einem neuen, ständigen Risiko gerechnet werden muss, nämlich einer Infektion mit dem neuen Coronavirus.

Eine Krankheit ist etwas anderes als ein Autounfall. Aber in beiden Fällen geht es sowohl um die eigene Sicherheit als auch um die anderer. Die individuelle Risikoabwägung ist ähnlich, mit dem Unterschied, dass ein Unfall nicht ansteckend ist. Mit anderen Worten, die je eigene Infektion trägt die Gefahr der exponentiellen Fallzahlensteigerung in sich.

Staatliche Katastrophenprävention wird gerade abgelöst durch individuelle Gefahrenkalkulation

Die Politik entschied deshalb im Frühjahr für alle, was zu tun sei, um das Virus einzudämmen. Meist genügte es, einfach zu Hause zu bleiben. Der Einzelne konnte nicht viel tun, außer sich an die politisch entschiedenen Beschränkungen zu halten. Das Risiko einer Infektion sollte für alle staatlich entschieden und geregelt so gering wie möglich gehalten werden. Es galt, Bilder von Kühllastern und überfüllten Intensivstationen, wie sie aus Italien kamen, hierzulande zu verhindern. Die Millionen Toten, die vor 100 Jahren die Spanische Grippe forderte, waren der worst case.

Der Soziologe Ulrich Beck schrieb über den Umgang mit einer bedrohlichen Zukunft: "Wenn wir über Risiken reden, streiten wir über etwas, das nicht der Fall ist, aber eintreten könnte, wenn nicht jetzt sofort das Ruder herumgeworfen wird. Geglaubte Risiken sind die Peitsche, mit der die Gegenwart auf Trab gebracht wird. Je bedrohlicher die Schatten, die auf die Gegenwart dadurch fallen, daß eine schreckliche Zukunft sich abzeichnet, desto nachhaltiger die Erschütterungen, die durch die Dramaturgie des Risikos heute ausgelöst werden können." Prognosen einer diffusen Gefahr erlauben politische Eingriffe im großen Maßstab. Das konnte man in den letzten Wochen beobachten.

Es scheint nun aber ein Wendepunkt erreicht zu sein, an dem das als Möglichkeit in den Raum gestellte apokalyptische Szenario einer Pandemie mit Millionen Toten, die der Staat verhindern muss, durch eine individuelle Risikokalkulation abgelöst wird. Die Verantwortung der Virus-Prävention wird immer mehr auf den Einzelnen übertragen. Einfach zu Hause bleiben genügt nicht mehr. Es wird darauf ankommen, aktiv im Alltag, im Büro und im Biergarten auf sich und andere achtzugeben.

Besonnenes individuelles Handeln kann genauso Leben retten wie die Radikalmaßnahmen zuvor

In der Soziologie wird Risiko oft als Produkt aus Eintrittswahrscheinlichkeit und Schaden beschrieben. Und beides ist im Falle der Corona-Pandemie beeinflussbar. Es gibt längst nicht mehr so viele Unsicherheitsfaktoren wie noch vor einigen Wochen. Die Wahrscheinlichkeit einer Infektion lässt sich schon mit einfachen und wenig invasiven Maßnahmen wie Abstand, Hygiene, Durchlüften und dem Tragen von Masken verringern; der "Schaden" durch ein reaktions- und leistungsfähiges Gesundheitssystem, wie es in Deutschland glücklicherweise zur Verfügung steht. Das individuelle Risiko einer Infektion ist also durch die Erfahrungen der letzten Wochen durchaus kalkulierbar geworden, so wie auch der Umgang mit den Gefahren des Straßenverkehrs oder die Verhinderung der Ansteckung mit anderen Krankheiten gelernt worden ist. So wurden zum Beispiel für den Umgang mit Aids durch Verhütungsmethoden bei sexuellen Kontakten gesamtgesellschaftliche Präventionsmaßnahmen getroffen. Sexuelle Kontakte wurden nicht eingeschränkt, sondern die Verantwortung muss je individuell getragen werden - für sich und für andere.

Der Umgang mit Corona verlangt nun auch nach größerer individueller Verantwortung und klaren Vorgaben, was im Falle einer Infektion zu tun ist. Individuell, wie für das Passantenpaar und den Verunglückten in Musils Roman, wird eine Infektion weiterhin ein besonderes, oft auch ein dramatisches Ereignis sein. Gesellschaftlich muss sich aber eine Routine im Umgang mit ihr entwickeln, und nicht jede Infektion kann als apokalyptisches Szenario wahrgenommen werden. Das kann nicht nur zu mehr Normalität führen, sondern durch Strukturen und besonnenes Handeln genauso Leben retten wie zuvor die flächendeckenden Radikalmaßnahmen.

Das Leben mit Corona wird ein Leben mit dem Risiko werden - an das ist man aber schon längst aus anderen Bereichen gewöhnt. Es muss von staatlicher Seite natürlich bei einer solchen Verlegung der Verantwortung auf den Einzelnen unbedingt gewährleistet sein, dass der Rettungswagen - im wörtlichen wie im übertragenen Sinne - jederzeit und schnell verfügbar ist.

Im "Mann ohne Eigenschaften" fragt die Begleiterin den Herrn am Ende des Kapitels schließlich, ob er meine, der verunglückte Mann sei tot. Der Herr antwortet darauf: "Ich hoffe, er lebt. (...) Als man ihn in den Wagen hob, sah es ganz so aus."

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