"Vice" im Kino:Der Meister-Puppenspieler

Film Vice

Ein Koloss, der sich jedoch stets im Hintergrund hält: Christian Bale als Vizepräsident Dick Cheney.

(Foto: Universum)
  • In "Vice" behauptet Regisseur Adam McKay, der Ursprung allen Übels der amerikanischen Politik sei Dick Cheney, George W. Bushs Vizepräsident.
  • Die schwarze Komödie versucht, die Welt im Hollywood-Format zu erklären, und die Machtspiele hinter Cheneys Fassade der Langeweile und Bürokratie offenzulegen.
  • "Vice" ist Entertainment, das zugleich wütend macht und fassungslos lachen lässt.

Von Tobias Kniebe

Ein durchdringender Alarmton, Rufe der Leibwächter, Menschen hasten durch Bunkergänge, auf den Bildschirmen das brennende World Trade Center. Alle sind hektisch und konfus im Kommandozentrum, bis auf einen: Vizepräsident Dick Cheney. Breit, schweinchenrosa, finster entschlossen sitzt er da, ein Ruhepol, auf den sich jetzt alle Augen richten.

Knapp rät er seinem Boss, mit der Präsidentenmaschine in der Luft zu bleiben, bis die Dinge klarer sind. Knapp befiehlt er dem Militär, Zivilflugzeuge zur Not abzuschießen. Knapp winkt er ab, als Condoleezza Rice das von George W. Bush selbst hören will. Ein Mann am Ziel, im Zentrum der Macht - und hinter ihm steht, die Hand auf seiner Schulter, halb zärtlich, halb kontrollierend, die Ehefrau.

In den USA hat der Film die Kritiker schon gespalten wie selten. Bei den Oscars ist er in acht Kategorien nominiert - darunter alle wichtigen.

Die Story eines Powerpaars als Ballade zweier Machtmenschen

Der Film, formal ein wildes Experiment zwischen Lachen und Wut, im dem auch mal Verse à la Shakespeare gesprochen und Peniswitze im Oval Office gerissen werden, stellt eine klare These auf: Alles Übel der Ära Trump hatte seinen Ursprung bereits in der Ära des zweiten Bush, und die Ära des zweiten Bush war - Dick Cheney. Wer sonst noch mitmischte, tat das als Clown oder Nebenfigur, weshalb Sam Rockwell den zweiten Bush auch gleich für die Lacher spielt.

Aber stimmt das? War es wirklich so wie eingangs gezeigt, im Führungszentrum unter dem Weißen Haus, am 11. September 2001, als die Twin Towers brannten und American-Airlines-Flug 77 ins Pentagon gestürzt war? Eines ist klar: McKay, der aus dieser Szene die Essenz seines Cheney destilliert, war nicht dabei - so wie die meisten Menschen auf diesem Planeten.

Klar ist aber auch, dass er und sein Team die verfügbaren Dokumente genau studiert haben. Und die verzeichnen tatsächlich keinen Moment, in dem der Abschussbefehl klar dem Präsidenten zugeordnet werden kann. Auch das Unwahrscheinlichste stimmt: Lynne Cheney hatte sich Zutritt zum Bunker verschafft. Sie stand wirklich hinter ihrem Mann.

"Vice" erzählt die Story dieses Powerpaars als Ballade zweier Machtmenschen, die sich gefunden haben, mit Untertönen von Lady Macbeth und Ausflügen in die schwarze Komödie. Beginnend 1963 in Wyoming, wo Lynne dem jungen Trunkenbold stählern den Weg weist, hin zum Praktikum in Washington, wo Cheney nur zufällig Republikaner wird, weil der ebenfalls noch sehr junge Oberzyniker Donald Rumsfeld (Steve Carell als Wiesel auf den Gängen der Macht) ihn unter seine Fittiche nimmt. Nixon, Kissinger und Ford ziehen vorbei, Cheney wird der jüngste Stabschef der Geschichte, dann CEO des Konzerns Halliburton, im Team von Bush senior perfektioniert er sein Spiel, bis Bush junior ihm die Erfüllung seines Lebenstraums möglich macht - eine Art Meister-Puppenspieler zu werden, der den Präsidenten vollständig kontrolliert.

Christian Bale spielt Cheney, eine seiner Totaltransformationen mit angefressenen Pfunden und überzeugendem Doppelkinn, das lässt ihn dem Vorbild tatsächlich ähnlich werden. Besonders bemerkenswert aber ist sein Gang - ein Mann, der tonnenschwer durch die Welt pflügt und wirklich eine Spur in der Geschichte hinterlässt. Amy Adams spielt die Ehefrau, sie gibt ihr jene uramerikanische Patentheit und Unzerstörbarkeit, bei der einem angst und bange werden kann. Beide sind jetzt, sehr zu Recht, für einen Oscar nominiert.

Eine wahre Geschichte - mit Zusatzklausel

Irgendwo auf der Welt existieren allerdings noch der reale Dick Cheney und seine Frau, von allen anderen historischen Figuren mal ganz abgesehen. Und auf die heiklen Fragen, die diese Art von Kino-Unternehmung mit sich bringt, hat McKay seine Zuschauer im Vorspann schon eingestimmt. Da wird eine wahre Geschichte ankündigt - allerdings mit Zusatzklausel: "So wahr sie eben sein kann, wenn man bedenkt, dass Dick Cheney einer der größten Geheimniskrämer der amerikanischen Geschichte ist. Aber verdammt, wir haben unser Bestes gegeben."

Das Ding ist allerdings, Dick Cheney war ja mehr als nur ein großer Geheimniskrämer. Er präsentierte sich sehr bewusst als der langweilige Koloss im Hintergrund, der Mann, dessen Bräsigkeit und monoton bürokratische Redeweise jede Aufmerksamkeit sofort erlahmen ließ. Kann so einer die Hauptfigur eines spannenden Spielfilms werden?

Er kann und muss, würde Adam McKay da antworten. Und lässt es seinen Filmerzähler auch explizit begründen: Weil wir alle der komplexen Analysen müde sind, übersehen wir die gewaltigen verborgenen Kräfte, die unser Leben wirklich prägen und verändern - und die Meister der geheimen Machtspiele. "Er hat den Lauf der Geschichte verändert, für Millionen und Abermillionen Menschen. Aber er tat es wie ein Geist. Die meisten wussten nicht, wer er war und wo er herkam."

Davon muss man erzählen, findet McKay. Und zwar so, dass die Aufmerksamkeit gerade nicht erlahmt. Er begann als Schreiber bei "Saturday Night Live" und drehte dann ein paar tolle, nicht sehr politische Komödien mit seinem Freund Will Ferrell. Sein Erweckungserlebnis kam mit "The Big Short". Wild entschlossen, dem Kinopublikum die komplexe Genese der Finanzkrise zu erläutern, griff er zu allen nur denkbaren Erzähltricks, ließ etwa Margot Robbie nackt in der Badewanne den Begriff "Subprime-Kredite" erläutern. Der Film wurde ein Erfolg, die Wall Street stand danach ziemlich nackt dar, und McKay bekam einen Drehbuch-Oscar.

Seitdem glaubt er an die Erklärbarkeit der Welt im Hollywood-Format - speziell wenn er den Satz hört, die Sache sei nun wirklich zu kompliziert. Vor allem aber glaubt er an ihre universale Dramatisierbarkeit: "Dick Cheney hat alles getan, um so langweilig und bürokratisch zu wirken, dass keiner je einen Film über ihn machen kann. Wir haben es trotzdem getan."

Und wie das so ist, wenn man jemanden zur Hauptfigur seines Films erklärt, kann man ihm nicht jegliche Sympathie verweigern - das würde dramaturgisch einfach zu langweilig, das hat auch schon Oliver Stone gemerkt, als er George W. Bush die Filmbiografie "W." widmete. Cheney, so wie McKay ihn jetzt sieht, ist auf jeden Fall ein treuer Ehemann und Vater. Ohne seine Frau wäre er nichts, für sie würde er alles tun, und als seine jüngere Tochter gesteht, dass sie Frauen liebt, nimmt er sie sofort schützend in den Arm. Für ihre Privatsphäre verzichtet er später darauf, selbst in den Präsidentschaftswahlkampf einzusteigen, und als George W. Bush ihm schließlich die Vizepräsidentschaft anbietet, formuliert er eine "in Beton gezogene Linie": Ohne Bushs Versprechen, nicht auf Bundesebene gegen die gleichgeschlechtliche Ehe vorzugehen, gehe gar nichts. Er bekommt es.

"Ich musste ihn menschlich machen", sagt McKay, "denn wenn man keinen wirklichen Menschen diese Wege beschreiten sieht, ist es sinnlos." Welche Wege das sind, macht der Film allerdings genauso klar: Inszenierung des Irakkriegs, Legitimierung der Folter, Deals mit der Ölindustrie, Exzesse des Lobbyismus, Desinformationen, Falschmeldungen und so fort.

Wer tolle Geschichten erzählt, braucht Klarheit und Drama

Als Entertainment, das wütend macht, fassungslos lachen lässt und Geschichte im Schnelldurchlauf präsentiert, funktioniert "Vice" erstaunlich gut. Adam McKay hat aber erkennbar höhere Ambitionen - am liebsten möchte er den nächsten Cheney verhindern, seine Landsleute aufschrecken. Ähnlich wie der Doku-Agitator Michael Moore scheint er daran zu glauben, dass man die Schurken nur unterhaltsam genug vorführen müsse, um einen Wandel endlich zu erzwingen.

Nur warum funktioniert das dann nicht, warum wird auch "Vice" nichts ändern? Weil es womöglich ein Irrweg ist. Unterhaltsamkeit und Wirklichkeit sind keine natürlichen Verbündeten. Wer tolle Geschichten erzählt, braucht Klarheit und Drama, wer die Wirklichkeit verstehen will, landet oft nur bei Plausibilitäten und möglichen Kausalitäten, die ewig von Zweifeln begleitet sind - und so muss es auch sein. Der langwierige Prozess, in dem daraus politisches Handeln wird, kann furchbar dröge und trotzdem unverzichtbar sein.

Wer allzu sehr darauf beharrt, unterhalten zu werden, während er die Übel der Welt erkennt oder auch nur die eigenen Interessen begreift, tappt in eine Falle. Denn perfekt unterhaltsam sind inzwischen auch Figuren wie Donald Trump. Trump hat politsches Entertainment, im Wettrüsten mit der Late Night Comedy, inzwischen waffenfähig gemacht. Das Ergebnis ist, dass er jetzt unverwundbarer dasteht, als ein Geheimniskrämer wie Dick Cheney es je war. Keine noch so dramatische Enthüllung, keine noch so lustige und unterhaltsame Vernichtung scheint ihm derzeit etwas anzuhaben.

Vice, USA 2018 - Regie und Buch: Adam McKay. Kamera: Greig Fraser. Musik: Nicholas Britell. Mit Christan Bale, Amy Adams, Steve Carell, Sam Rockwell, Tyler Perry. Verleih: Universum, 132 Min.

Zur SZ-Startseite
Vice - 69th Berlin Film Festival, Germany - 30 Oct 2017

Kino und wahre Begebenheiten
:Riskanter Handel mit gefühlten Wahrheiten

Ist es für "Vice" relevant, wie viele Herzinfarkte Dick Cheney wirklich hatte? Und liegen in Mexiko Gebetsteppiche, wie Donald Trump behauptet? Über den Stellenwert von Wirklichkeit im Kino.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: