Charles Ray in Paris:Realität in Auflösung

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Ohne Sockel, ohne Zügel bleibt nur ein Pferd und ein Mann mit Rückenproblem: Charles Rays "Horse and Rider". (Foto: Aurelien Mole/Charles Ray/Pinault Collection)

Zwei Pariser Ausstellungen geben einen einmaligen Einblick in das Werk des amerikanischen Künstlers Charles Ray.

Von Johanna Adorján

Vor dem Pariser Museum Bourse de Commerce steht die Skulptur eines silbernen Pferdes mit Reiter. Natürlich, in Paris stehen alle paar Meter irgendwelche Reiterskulpturen, aber diese ist anders. Fotografien geben es nicht wieder, man muss vor, hinter oder neben diesem Pferd stehen, um zu erfahren, wie überraschend einen eine Reiterskulptur erwischen kann, die ohne Sockel auf dem Boden montiert ist, und deren Reiter nichts Heroisches oder Kriegerisches an sich hat, sondern aussieht wie irgendein Mann mit Rückenproblem. Er ähnelt dem Künstler, trägt heutige Alltagskleidung. Das Pferd ist gesattelt und aufgezäumt, das Maul steht leicht offen, man sieht die Zähne. Alles ist hyperrealistisch, nur eben silber. Ein bisschen wie diese grauenhaften Pantomimen, die weiß oder silber angemalt sind und sich dann bewegen, um alle zu erschrecken.

Die Statue ist aus rostfreiem Stahl und wiegt über 9000 Kilogramm. Man darf sie berühren, sich aber nicht draufsetzen. Ein Detail: Der Reiter hält eine Hand, als halte er einen Zügel, aber da ist kein Zügel. Hat das etwas zu bedeuten? Was hat es zu bedeuten? Dass ein Detail fehlt, ist jedenfalls ein Motiv, das öfter auftaucht im Werk des Künstlers, der die Skulptur dieses melancholischen silbernen Reiters geschaffen hat. Noch ein Detail: Man nimmt Pferd und Reiter als lebensgroß wahr, doch das täuscht. Der Künstler hat sie um 10 Prozent vergrößert. Er ist jemand, der gerne mit unserem Gefühl für Größe spielt.

Charles Ray gilt als einer der bedeutendsten Künstler der Gegenwart. Das heißt es zwar laufend, aber bei ihm stimmt es wirklich, insbesondere für sein Gebiet, die Bildhauerei. Er schafft Skulpturen aus so unterschiedlichen Materialien wie Stahl, Holz, Papier, Marmor, Porzellan und ist auch bei der Wahl seiner Motive so vielseitig, dass man meinen könnte, seine Werke seien von verschiedenen Künstlern gemacht. Anders als so viele berühmte Künstler hat er sich nie auf ein Trademark festgelegt, sondern man merkt seinem Werk an, dass es von jemandem stammt, der nie aufgehört hat zu denken.

Vater, Mutter, Kinder, alle 1,35 Meter groß - eine Familie wie aus dem Horrorfilm

In Paris wird der 1953 geborene Amerikaner gerade mit einer Doppelschau gewürdigt, die schon allein deshalb spektakulär ist, weil sie ein Drittel seines Gesamtwerks zeigt. Charles Ray arbeitet langsam, es gibt nur 120 bis 150 Werke von ihm (die genau Anzahl ist auch deshalb unklar, weil er bisweilen aus älteren Werke neue macht). Viele seiner Arbeiten sind, wie die Reiterstatue, sehr schwer, also auch sehr schwer zu transportieren. Es ist daher eine einmalige Gelegenheit, sich einen so breiten Eindruck über sein Schaffen zu machen, und man muss sich dafür tatsächlich nach Paris begeben, es reicht nicht, sich den Katalog zu kaufen, weil Charles Rays Werke nicht gut zu fotografieren sind. Das Irre und Interessante an seinen Werken fangen Fotos nicht ein. Da könnte man einiges glatt für Kitsch halten, für neo-klassizistischen Ramsch, wie man ihn in den Touristen-Galerien am Place des Vosges im Schaufenster sieht.

Interessant ist die Doppelausstellung auch, weil man an ihr zwei Institutionen miteinander vergleichen kann. Die eine Hälfte der Werke wird in François Pinaults 2021 eröffneter Bourse de Commerce gezeigt, die andere im mittlerweile ja schon fast altehrwürdigen Centre Pompidou. Es liegen Welten zwischen den Präsentationen, die in Zusammenarbeit entstanden, aber, gemeinsam mit dem Künstler, von verschiedenen Kuratoren erstellt wurden (Caroline Bourgeois für die Pinault-Collection, Jean-Pierre Criqui fürs Centre Pompidou). Die Bourse de Commerce dürfte in ihrem Inneren eines der fotogensten Museen der Welt sein: Alles darin ist schön. Das von Tadeo Ando mit grauem Beton ausgestaltete Interieur wirkt elegant und freundlich und lässt die hier gezeigten Kunstwerke glänzen wie Stars auf einer Bühne, die man netterweise ebenfalls betreten darf. Man kann in diesem Museum kein hässliches Foto machen, selbst die anderen Besucher stören nie, sondern wirken wie wichtige Statisten. Die Ausstellung dort zaubert den Besuchern ein Lächeln ins Gesicht. Die Werke sind intelligent zueinander in Bezug gesetzt, alles hat seinen Platz, alles atmet, alles macht Sinn.

"Unbaled Truck" in einem der fotogensten Museen der Welt, der Bourse de Commerce. (Foto: Aurelien Mole/ Matthew Marks Gallery)

Im Centre Pompidou dagegen wirkt es ein bisschen nach Alles-muss-raus-Sammelschau. Nichts hat den Platz, den es bräuchte, die Decke wirkt zu niedrig (dafür kann der Kurator natürlich nichts), die Beleuchtung ist so, als hätte man im Hobbykeller Licht gemacht. Und auch die Informationen, die die Besucher an die Hand bekommen, sind liebloser als im anderen Museum. Das fängt mit dem Audiokommentar an, der in der Bourse de Commerce fantastisch ist (man scannt mit dem Telefon einen Barcode und hört eine Werkbeschreibung, sowie einen Kommentar des Künstlers) und hört damit auf, dass im Centre Pompidou nirgends angegeben ist, wie schwer die Werke sind, was einem, da man sie ja nicht anfassen darf und sie oft aussehen wie aus ein und demselben Material, einen wichtigen Hinweis liefern würde. Manch riesige Statue, die aussieht wie aus Stein, ist nämlich ganz leicht, weil sie überraschend aus Papier ist. Naja. Dafür sind aber auch hier sehr gute Werke zu erleben.

"Shoe Tie" und "Fall '91" im Centre Pompidou. (Foto: Bertrand Prévost/Centre Pompidou)

Etwa "Family Romance" (1993): vier sich an den Händen haltende Puppen, die eine Familie darstellen, Eltern und zwei Kinder. Die Besonderheit: Sie sind alle genau gleich groß, 1 Meter 35. Weil kleine Kinder aber andere Proportionen haben als Erwachsene, wirkt alles an dieser Gruppe gestört. Die Familie hat durch die manipulierten Größenverhältnisse etwas Unheimliches, wie aus einem Horrorfilm. Oder der dekonstruierte Tisch, "How a Table Works" (1986), der zeigt, was ein Tisch alles kann. Die Platte fehlt, die einzelnen Teile, die man sich vorstellen kann wie die Striche, mit denen man einen Tisch zeichnet, werden nur durch Stützen gehalten, Stützen halten auch die Gegenstände über der fehlenden Platte, das Ensemble erfüllt alle Funktionen eines Tisches. Es ist ein funktionsfähiger Tisch, der kein Tisch ist.

Er ließ einen morschen Baumstamm von japanischen Meistern nachschnitzen

Oder die Fotografie "Yes", ein halbnahes Porträt des Künstlers aus dem Jahr 1990. Charles Ray trägt ein gestreiftes Hemd und Hornbrille, hat den Mund leicht offen und einen besorgten Blick. Man muss zu diesem Bild die Backstory kennen, sonst geht einem alles daran verloren: Die Aufnahme entstand, als der Künstler auf einem LSD-Trip war, und zwar genau in dem Moment, in dem sich die Realität für ihn aufzulösen begann. Der Titel bezieht sich auf Nancy Reagans Antidrogen-Kampagne "Just say No". Weiß man das nicht, sieht man nur ein Foto des Künstlers mit leicht offenstehendem Mund.

Ähnlich verhält es sich mit der Arbeit "Hinoki" (2007). Ein zehn Meter langer Baumstumpf. Sieht aus wie aus Holz, ist auch aus Holz. Jaja, sehr schön, könnte man denken. Auf dem Boden liegendes Holz hat man ja in Museen für zeitgenössische Kunst wirklich schon zu Genüge gesehen. Die Geschichte hinter diesem Kunstwerk ändert aber alles: Charles Ray, der in Kalifornien lebt und den man sich als Mensch vorstellen muss, der gerne in der Natur ist, hat sich einmal ein Segelboot gekauft. In Vorbereitung fuhr er öfters an den Ort, wo das Boot lag. Auf dem Weg kam er immer an einem Waldstück vorbei, wo ein umgestürzter Baumstamm seine Aufmerksamkeit gefangen nahm. Er war teilweise schon weggemodert, hatte Aushöhlungen und Löcher. Je öfter er vorbeikam, desto stärker verliebte er sich in diesen morschen Stamm.

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Er bekam heraus, wem das Land gehörte, bot Geld, doch die Eigentümer wollten nicht verkaufen. Er schickte einen Assistenten los, nach einem vergleichbaren Stamm zu suchen, nach einem Jahr sah er ein, dass es ihm nicht um einen vermodernden Stamm ging - sondern genau um diesen. Und was tat Charles Ray? Er mietete sich einen Lastwagen, fuhr mit einer Motorsäge am helllichten Tag zu seinem Stamm und transportierte ihn in Scheiben ab. Er klaute ihn einfach. Und dann wurde der Stamm in seinem Studio wieder zusammengelegt, digital vermessen und in Japan von Meistern der Schnitzkunst nachgeschnitzt. Mit all den Spuren der Verwitterung und Verwesung, die er in Nordkalifornien erfahren hatte. Was da also im Centre Pompidou auf dem Boden liegt, ist nicht der eigentliche Stamm, sondern eine geschnitzte Nachbildung.

Charles Ray hat mal gesagt, das eigentlich Material eines Bildhauers sei Raum, und die Skulptur ein Raum im Raum. Das klingt zwar sehr schön, in seinem Fall aber braucht man auch die Geschichte dazu, die seinen Räumen Leben einhaucht.

Kurz sei noch auf die poetische Anordnung von drei Werken in der großen Rotunde in der Bourse de Commerce hingewiesen, die zusammengenommen von einem Traum von Amerika erzählen, von Freiheit und auch vom Älterwerden. Und zumindest erwähnt sei, dass nicht alle Werke dieses großen Künstlers das eingangs skizzierte Versprechen einlösen, dass man von ihnen berührt werden kann, auch nicht live. Aber wenn es passiert, ist es unglaublich.

Charles Ray. Paris, Centre Pompidou , bis 20. Juni. Bourse de Commerce - Pinault Collection , bis 6. Juni. Der Katalog kostet 45 Euro.

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