Öffentliche Empörung:Wer einem nicht passt, muss verschwinden

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Wer einem nicht passt, soll von der Bildfläche verschwinden? So funktioniert kein Rechtsstaat. (Foto: Scott Roth/Invision/AP; Illustration: SZ)
  • In den USA ist eine Art "Gerichtshof der öffentlichen Vernunft" schon länger bekannt, nun kommt das Phänomen der "Cancel Culture" auch in Deutschland an.
  • Beispiele dafür sind die Proteste gegen den AfD-Gründer Bernd Lucke oder Demonstranten bei der Buchvorstellung von Thomas de Maizière. In den USA nennt man das "Court of Public Opinion".
  • Das Problem: Der "Gerichtshof der öffentlichen Vernunft" verzichtet bislang auf eine logisch nachvollziehbare, detaillierte Argumentation. Die Entladung diffuser Wut nützt keinem.

Von Susan Vahabzadeh

Die "Actor's Hour" ist ein Pop-up-Event, das durch New York tingelt. Junge Schauspieler und Komiker treffen sich da, es soll ein Forum sein für Ideen, aus denen mit ein bisschen Teamarbeit etwas werden könnte. Am vergangenen Donnerstag gab es eine solche Veranstaltung in einer Bar. Dabei sorgte die Komikerin Kelly Bachman für einigen Aufruhr: "Freddy Krueger" sei anwesend, sagte sie auf der Bühne. Sie meinte damit Harvey Weinstein, den Ex-Filmmogul, gegen den mehrere Staatsanwaltschaften Vergewaltigungsvorwürfe prüfen. Den Mann, dessen inzwischen akribisch belegte Einschüchterungsmethoden es ihm ermöglichten, über Jahrzehnte junge Schauspielerinnen und Angestellte zu drangsalieren, wenn sie ihn zurückwiesen. So etwas wie die Ansammlung junger Schauspielerinnen in der Bar, so Bachmann, wären für ihn die perfekten Jagdgründe, aber eigentlich sei er ja nur noch ein Ex-Mitglied der Filmbranche. Auch wenn die Leute, die Bachmann dann ausbuhten, während Weinstein ungerührt an seinem Tisch saß, sich wohl anderes erhofften.

Kein anderer Fall in der "Me Too"-Ära ist so gut dokumentiert und stark öffentlich diskutiert worden, wie der von Harvey Weinstein. Viele der Vorwürfe, die ihm gemacht werden, kommen trotzdem nicht vor Gericht, weil sie entweder verjährt sind oder schwer zu ahnden. Ashley Judd versucht nun, ihn in einem Prozess dafür zu belangen, dass er ihr bestimmte Rollen durch Intrigen verwehrt hat, nachdem sie vor ihm geflüchtet war. Viele ihrer Kolleginnen werden das nie beweisen können. Und was ist mit den Frauen, denen er Schweigegeld gezahlt hat, was vermuten lässt, dass irgendetwas geschehen ist, das nicht an die Öffentlichkeit dringen durfte und inzwischen verjährt ist? Hollywood hatte nur eine Möglichkeit, wirksam gegen Weinstein vorzugehen - er wurde zur Persona non grata erklärt. Mit aller Vehemenz. Wie George Clooney 2017 sagte: als abschreckendes Beispiel, damit klar ist, was jemandem blüht, der derartig seine Macht missbraucht.

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In der "Me Too"-Ära sind aber auch weniger klare Fälle aufgegriffen und vermeintliche Täter um ihren Job gebracht worden. Der Senator Al Franken ist 2017 letztlich wegen einiger Beschwerden, er habe Wählerinnen an der Taille berührt, und wegen eines geschmacklosen Fotos von einer Schauspielerin zurückgetreten, einer Geschichte, die zumindest in Teilen widerlegt ist. Damals wollte keine amerikanische Zeitung die Vorwürfe gegen ihn auseinandernehmen. Als es der New Yorker dann doch tat, gab es im Netz eine Welle der Empörung.

Die Polarisierung medialer Debatten in Deutschland und den USA ist nicht zu vergleichen

"Cancel Culture" wird das Phänomen in den USA genannt: Wer einem nicht passt, soll von der Bildfläche verschwinden. Nicht nur im Zusammenhang mit "Me Too". Die Oscars fanden zum Beispiel in diesem Jahr ohne Moderator statt, weil Kevin Hart, den die Academy engagiert hatte, sich nicht für seine schwulenfeindlichen Bemerkungen von 2010 entschuldigen wollte. Der liberale Comedian Bill Maher wurde, als er auf einem Uni-Campus auftreten wollte, wegen einige Jahre alter "islamfeindlicher" Äußerungen (Maher ist Atheist und wettert gegen alle Religionen) genauso weggebuht wie Milo Yiannopoulos, Parolenschreiber der rechten Website Breitbart, die ihn schließlich ebenfalls rauswarf. Auch Fernsehsendungen stehen unter Beschuss: In den Shows der rechten Meinungsmacher Laura Ingraham, die unter anderem die Opfer der Schießerei in Parkland verhöhnte, und Sean Hannity, dem Trump-Liebling, auf Fox News gibt es nur noch wenig Werbung, weil viele Firmen keine Lust haben, mit Boykottaufrufen im Netz konfrontiert zu werden. Was andererseits auch schwierig werden kann: Als der Kaffeemaschinenhersteller Keurig Ende 2017 als einer der ersten beschloss, nicht mehr in Sean Hannitys Show zu werben, wurde er von Rechten boykottiert. Die posteten Videos davon im Netz, wie sie ihre bereits erworbenen Keurig-Maschinen zerstörten.

Für diese Auswüchse der Protestkultur wird gerne eine übertriebene politische Korrektheit von links verantwortlich gemacht. Der Fall von Keurig ist aber ein guter Beleg dafür, dass das so nicht ganz stimmt: Erstens kam da der Protest von rechts, und zweitens geht ein Boykott wegen Nicht-Unterstützung noch weiter als einer, der eine Unterstützung geißelt. Da wird eine Art Werbepflicht eingefordert wie eine Zwangsabgabe einer privaten Firma, die dann nicht frei entscheiden kann, wie sie ihr Geld ausgibt. Was mag das mit dem Schutz der Meinungsfreiheit zu tun haben, auf den sich alle immer wieder berufen, die politische Korrektheit für entgleisende Diskurse verantwortlich machen?

Die Polarisierung medialer Debatten ist in Deutschland mit dem, was in den USA üblich geworden ist, nicht zu vergleichen. Zwar wird das öffentlich rechtliche Fernsehen tatsächlich mit einer verpflichtenden Abgabe finanziert, die ist allerdings gesetzlich geregelt und entfällt nicht, nur weil einer die Tagesschau nicht mag. Dennoch kommt die amerikanische Cancel Culture auch bei uns an. Gerade in den letzten Wochen gab es spektakuläre Beispiele: als der AfD-Gründer Bernd Lucke, der die Partei längst verlassen hat und an die Uni zurückgekehrt ist, seine Vorlesungen wegen lauter Proteste nicht halten konnte. Oder als Thomas de Maizière sein Buch nicht vorstellen konnte: Demonstranten hinderten ihn daran mit dem Vorwurf, er habe den Syrienkrieg in seiner Zeit als Innenminister irgendwie mit ermöglicht. Natürlich muss es möglich sein, zu protestieren, aber die Entladung diffuser Wut nützt keinem.

Die Aufregungskurven sind entgleist, und in Bernd Lucke trifft es zum Beispiel einen, der als Politiker selbst auf Provokationsrhetorik gesetzt hat. Dem seither vielen Beleidigungen vorangestellten "Das wird man doch wohl noch sagen dürfen" hat er damit die Tür geöffnet. Wobei der öffentlich-rechtliche Rundfunk das deutsche Publikum davor bewahrt, wie in den USA möglichst hanebüchene Thesen gegeneinander antreten sehen zu müssen, nur damit es aufgeregt vor dem Fernseher sitzen bleibt.

Nebenbei bemerkt: Die "Cancel Culture" arbeitet keineswegs für die Ewigkeit

Nicht nur die Cancel Culture, sondern auch eine Trigger Culture hat ja in den USA die Auseinandersetzungen so giftig werden lassen. Nach dieser Kultur hat der umstrittene Komiker Bill Burr eines seiner Programme benannt. Besonders frauenfeindliche Sprüche haben es ihm angetan. Und er lebt davon, dass sich viele Leute über seine Gags aufregen. Als wäre allein das schon eine Leistung.

Ein weiterer Faktor, der die Erregungen hochtreibt, ist sicher ein Gefühl der Ohnmacht. Das war ein wichtiges Motiv der "Me Too"-Bewegung: Sexuelle Übergriffe gibt es viele, und solange die Macht zwischen Männern und Frauen unterschiedlich verteilt ist, können sich viele Frauen dagegen nicht wehren. Von Weinsteins Verhalten etwa wussten viele, aber kaum einer in Hollywood, der etwas mitbekommen hatte, half den betroffenen Frauen. Weinsteins Unterstützung schien den Leuten wichtiger oder sie fürchteten seine Rache.

Nebenbei bemerkt: Die Cancel Culture arbeitet in den USA keineswegs für die Ewigkeit. Das amerikanische Magazin The New Republic hat gerade einen Artikel der New York Times aufgearbeitet, in dem 2018 beklagt wurde, was alles gecancelt worden sei - von Bill Gates bis Guacamole. Und es stellte sich heraus, die meisten Personen und verbannten Gegenstände waren längst rehabilitiert.

So wird dem Gefühl der Ohnmacht sicher nicht abgeholfen. Ohnmacht ist es auch, die amerikanische Demonstranten dazu brachte, Donald Trumps Einwanderungsberater Stephen Miller und seine damalige Innenministerin Kirstjen Nielsen im Restaurant zu bedrängen, als herausgekommen war, dass Flüchtlingskinder an der Grenze von ihren Eltern getrennt wurden. Keine sehr stilvolle Aktion - aber es fiel diesen Demonstranten kein anderes Mittel ein, Rechenschaft zu fordern für eine Politik, die die überwältigende Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung ablehnt.

Es blieb also nur das, was die Amerikaner den court of public opinion nennen, man könnte sagen: ein Gerichtshof der öffentlichen Vernunft. Der Unterschied liegt auf der Hand: Vor einem Gericht muss jeder Fall akribisch auseinandergenommen werden. Es wäre vielleicht einfacher für Richter, würden sie pauschal jeden Diebstahl mit der Höchststrafe ahnden und nicht versuchen herauszufinden, ob es nicht doch nur Mundraub war. Aber so funktioniert kein Rechtsstaat. Und so müsste auch der Gerichtshof der öffentlichen Vernunft vorgehen, wenn er den Namen verdient hätte: Warum jemand, der sich nicht im juristischen Sinne strafbar gemacht hat, nicht mehr im Parlament sitzen darf oder Filme produzieren oder an Unis sprechen, müsste er durch eine logisch nachvollziehbare, detaillierte Argumentation belegen. Und nicht bloß durch Furor.

© SZ vom 28.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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