Der Brite Adam Thirlwell erzählt von Celine, die vom großen Aufbruch in die bürgerliche Freiheit, der Französischen Revolution, weniger profitiert, als man sich wünschen würde. Obwohl sie eigentlich gerne Frau ist, hört man von ihr: "Manchmal wünschte sie sich, ein Mann zu sein, nicht wirklich und nicht immer, aber manchmal doch, einfach wegen der Freiheit und der Leichtigkeit. Sie konnte nicht lässig sein, nicht auf die Art und Weise, wie Männer in der Welt existieren konnten." Kleine Anachronismen und sein Sinn für die Politik der Party geben diesem in den letzten Tagen des Ancien Régime beginnenden Roman Sophia-Coppola-Vibes. Ein feiner Emanzipationsroman von einem der besten Autoren unserer Zeit.
Von vier Generationen der Frauen einer Familie erzählt die polnische Schriftstellerin Joanna Bator in diesem sinnlichen, alltagssatten Roman. Deren Verbindungen werden häufig unterbrochen durch Schicksalsschläge und Gewalteinbrüche, die nicht selten von Männern verursacht werden. Was sie zusammenbringt, ist die Sorge der Jüngsten unter ihnen, Kalina, der Erzählerin des Romans, um die Erinnerung an die Erfahrungen, die ihre Vorfahrinnen im Laufe eines Jahrhunderts gemacht haben.
Gunnar Decker - Rilke. Der ferne Magier
Rainer Maria Rilke ist so etwas wie das poetische Gewissen der bildungsaffinen Deutschen. Beinahe jeder, der weiß, was ein Gedicht ist, kann ein paar Verse von Rilke hersagen. Wer sich etwas eingehender mit Dichter und Werk beschäftigt hat, vermag aus den "Duineser Elegien" zu zitieren, zumindest den berühmten Anfang "Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen?". Die Zeile aus "Herbsttag" - "Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr" - ist inzwischen in den alltäglichen Sprachgebrauch, nicht nur von verzweifelten Wohnungssuchenden, eingegangen. Den Lebenswiderspruch des Dichters lässt Gunnar Decker in seiner Lebensbeschreibung "Rilke - Der ferne Magier" als biografisches Kontinuum durch das Buch wandern: Askese und Luxus, Nähe und Distanz. Decker gelingt es, Rilkes Leben mit kritischer Empathie und großem erzählerischen Können zu beschreiben. Der ferne Magier rückt einem in vielen Lesemomenten verblüffend nah.
Dagmar Pauli: Die anderen Geschlechter
Dagmar Pauli, Chefin der Kinder und Jugendpsychiatrie an der Psychiatrischen Uniklinik Zürich, hat aus ihrer jahrzehntelangen Behandlungspraxis ein Buch über queere junge Menschen geschrieben, das weit über den medizinischen Tellerrand hinausweist. Denn sie thematisiert darin einen doppelten Paradigmenwechsel, um den derzeit gerungen wird. Zum einen in Hinblick auf die Frage, als was wir Geschlecht definieren (und wer das überhaupt definieren kann). Und zum anderen in Hinblick auf die Vorstellung, als was wir Kind- beziehungsweise Jugendlichsein verstehen. Für Pauli ist es an der Zeit, die paternalistische Schutzidee der Erwachsenen weiter zurücktreten zu lassen gegenüber dem Recht auf Selbstbestimmung der jungen Menschen. "Das Ziel muss sein, dass die Gesellschaft sich den Bedürfnissen der jüngeren Generation öffnet", schreibt Pauli.
Frank Trentmann - Aufbruch des Gewissens
Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten viele Deutsche das Bedürfnis, endlich wieder "gut" sein zu wollen oder zumindest nicht in aller Welt weiterhin als Nazis und Mörder zu gelten. Doch wie stellten sie sich dabei an? Der in London lehrende Historiker Frank Trentmann hat dazu eine monumentale, von 1942 bis 2022 reichende Moralgeschichte vorgelegt, die ihresgleichen sucht. Dieses anregende, überaus materialreiche und trotz der Länge gut lesbare Buch erzählt von den oft quälenden, immer widersprüchlichen, zuweilen auch bewundernswerten Versuchen der Deutschen, an einem positiven Selbstbild zu arbeiten.
Peter Seibert - Demontage der Erinnerung
Wie gingen die Deutschen eigentlich nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust mit den baulichen Relikten jüdischer Kultur um? Respektvoll und sensibel? Mitnichten! Was der Kulturwissenschaftler Peter Seibert in seinem Buch "Demontage der Erinnerung" zusammengetragen hat für die Jahre bis 1988, ist ein beschämendes Zeugnis sowohl für die BRD als auch für die DDR. Da, wo noch Synagogen standen, brauchte man plötzlich Platz für Kinos, Geschäftshäuser, Parkplätze oder Weinstuben. Nicht immer ging es dabei um Antisemitismus, oft war es auch reine Gedankenlosigkeit ohne jedes Bewusstsein für die Geschichte. Gerade in diesen Tagen wäre es gut, sich damit auseinanderzusetzen, mit welcher Empathielosigkeit auf jüdisches Leben in Deutschland über Jahrzehnte geblickt wurde.