Die Türkei verliert einen großen Teil ihrer Elite. Immer mehr Akademikerinnen, Akademiker und Intellektuelle wandern - gezwungenermaßen oder aus freiem Willen - nach Europa, Kanada oder in die USA aus. Ihre Heimat lassen sie damit aber nicht hinter sich. Im Gegenteil. Drei von ihnen erzählen hier ihre Geschichte. Nicht alle wollen das unter ihrem wahrem Namen tun - deshalb wurden ihre Namen von der Redaktion geändert.
Zeynep Sentek promoviert gerade in Heidelberg in Politikwissenschaft. Sie musste die Türkei nicht unter Zwang verlassen, ist im Nachhinein aber froh darüber.
In der Türkei könnte ich gerade nicht promovieren. Meine Doktorarbeit, die ich nun in Heidelberg verfasse, behandelt den Aufstieg und Wandel von Polizei und Militär in der Türkei. In meiner Heimat würde ich nie einen Professor finden, der so ein regierungskritisches Thema betreuen könnte. Selbst wenn ich einen fände, würde der seinen Job gefährden.
Intellektuelle haben in der Türkei gerade keine Chance. An manchen Universitäten wurden ganze Abteilungen geschlossen, es gibt keine Wissenschaft mehr. Daran ist die Regierung auch gar nicht interessiert.
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Die Lage ist bedrückender als in den 80er-Jahren. Damals waren Massenverhaftungen, Folter und sogar Hinrichtungen zu beklagen. Doch es gab zumindest eine Hoffnung.
Meinen Master habe ich in Großbritannien gemacht, wo ich auch meinen Mann kennengelernt habe. Er ist Brite. Wir sind anschließend für eine Weile zurück in die Türkei gegangen. Aber das wissenschaftliche Niveau ist in der Türkei leider nicht so hoch, unter 100 Universitäten sind vielleicht drei gute. Also habe ich mich auf eine Doktorandenstelle für Politikwissenschaft in Heidelberg beworben - und wurde genommen. Etwa einen Monat nach dem gescheiterten Militärputsch im vergangenen Jahr zogen wir nach Deutschland. Der Zeitpunkt war reiner Zufall. Aber im Nachhinein bin ich sehr froh darüber, dass wir die Türkei verlassen haben. Ich glaube nicht, dass uns damals klar war, was noch alles passieren würde.
Die Entwicklungen in der Türkei machen mich sehr traurig. Jedes Mal, wenn ich meinte, jetzt könne es nicht mehr schlimmer werden, passierte genau das: Es wurde schlimmer. Und solange diese Regierung an der Macht ist, wird das auch so weitergehen. Das Ausmaß des Bösen, wie es sich nach dem Putschversuch entwickelt hat, konnte niemand ahnen. Insofern bin ich sehr froh, jetzt in Deutschland zu leben, wo das Potenzial junger Wissenschaftler anerkannt und gefördert wird. Als Journalistin kann ich im Ausland auch leichter über meine Heimat schreiben, weil ich hier sicher bin. In der Türkei würden sie mich dafür verfolgen.
Allerdings würde ich gern irgendwann wieder zurück in die Türkei gehen. Schließlich bin ich dort aufgewachsen, meine Familie lebt dort. Aber momentan ist das nicht möglich. Ich verfolge das Geschehen dort sehr genau und fühle mich meiner Heimat gegenüber auch verpflichtet. Aber ob, wie und wann ich überhaupt zurückgehen kann, weiß ich nicht. Ich muss gerade einfach abwarten, was passiert.
Bektaş Aktar war in der Türkei ein angesehener Universitätsprofessor, bevor er sich gezwungen sah, nach Europa zu fliehen.
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Intellektuelle befürchten Zustände wie im Nahen Osten - und wandern nach Skandinavien oder die USA aus.
Die türkische Regierung hält mich für einen Terroristen. Würde ich morgen in die Türkei zurückkehren, würde ich umgehend angeklagt. Ich war ein angesehener Professor in der Türkei und musste umgehend nach dem Putschversuch fliehen. Ein Freund rief mich in der Nacht noch an und riet mir, dringlich dazu, das Land zu verlassen. Alles musste ganz schnell gehen - innerhalb von 16 Stunden mussten meine Frau, meine Kinder und ich abreisen.
Der Regierung war ich schon länger ein Dorn im Auge. In den zweieinhalb Jahren vor dem Putschversuch wurde ich zu keiner akademischen Veranstaltung eingeladen. Meine Kontakte zu Akademikern und Ministern im Ausland scheinen der Regierung nicht gefallen zu haben. Das passt einem autoritären Regime nicht, das alles in der Türkei monopolisieren will.
Die Tatsache, für die Regierung ein Terrorist zu sein, muss man erst mal verdauen. Auch die plötzliche Flucht macht meiner Familie und mir zu schaffen. Unsere Bücher, Schmuck, Erinnerungsstücke - das alles ließen wir zurück.
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An der europäischen Universität, an der ich gerade aufgenommen wurde, verdiene ich bei Weitem nicht so viel wie früher und das Niveau meiner Arbeit ist auch niedriger. Aber immerhin habe ich einen Job. Und meine Familie und ich sind sicher.
Meinen Verwandten in der Türkei bringt das wenig. Wenn die Regierung einen selbst nicht kriegt, versucht sie, Familienangehörige zu finden. Nun sitzen einige meiner Angehörigen im Gefängnis, natürlich ohne offizielle Begründung. Zu Leuten in meiner Heimat habe ich kaum mehr Kontakt. Im vergangenen Jahr, seit ich die Türkei verlassen habe, haben mich nur drei Menschen von dort angerufen. Aber ich kann ihnen keinen Vorwurf machen, schließlich haben sie Angst um ihre Sicherheit.
Das, was gerade in der Türkei passiert, ist eine perfekte Illusion. Die Menschen glauben einfach, was Erdoğan sagt, sie skandieren rassistische Slogans und feiern den Präsidenten, wenn er die Todesstrafe wiedereinführen will. Man kann aber nicht der Regierung allein die Schuld geben. Millionen unterstützen gerade ein korruptes und diktatorisches System. Menschen verraten gerade ihre Nachbarn, sogar ihre Freunde an das Regime. Mit so einem Land kann ich mich nicht mehr identifizieren. Wenn sich die Leute nicht bald fragen, wen sie da unterstützen, dann möchte ich meine Kinder nicht mehr in dieses Land zurückbringen.
Ayşe Yenen arbeitet als Journalistin und Politikwissenschaftlerin und unterrichtete in der Türkei an der Universität. Ihre Geschichte ist auch die ihres Sohnes.
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Mein Sohn will nie wieder zurück in die Türkei. Er will im Ausland studieren, dazu ist er fest entschlossen, obwohl er erst zwölf Jahre alt ist. Kinder bekommen in der Türkei durchaus mit, was in ihrem Land los ist. Wenn die Regierung Webseiten oder bestimmte Apps auf dem Smartphone blockiert. Mein Sohn will außerdem nicht am Religionsunterricht teilnehmen, den es in der Türkei gibt. Aber so richtig kann ich mir nicht erklären, woher seine dezidierte Meinung kommt. Über Politik reden wir nämlich kaum.
Wir leben abwechselnd in der Türkei und in Ungarn. Vergangenen Herbst fuhren wir zu zweit mal wieder nach Ungarn, wo ich eigentlich nur für ein paar Monate mit meinem Sohn bleiben wollte. Aber dann weigerte er sich plötzlich, in die Türkei zurückzukehren. Also sind wir geblieben.
Wir waren zum Glück nicht, wie viele andere, gezwungen, die Türkei zu verlassen. Als Journalistin schreibe ich über Außenpolitik und Populismus und bin in meiner Arbeit auch kritisch. Aber meine Texte sind eher akademisch und analytisch. Und ich bin nicht so bekannt wie viele Kolumnisten. Vielleicht bin ich deswegen nicht so aufgefallen.
Mit der Abwanderung vieler kritischer und intellektueller Geister - dem Braindrain, der gerade in der Türkei passiert - verlässt eine der wichtigsten Bevölkerungsgruppen das Land. Und zwar diejenige, die hoch qualifiziert ist, mobil und wohlhabend. Diese Menschen gehen nach Europa, Amerika und Kanada. Inzwischen denkt aber auch die Mittelschicht darüber nach, das Land zu verlassen. Auch wer momentan keine Repression von der Regierung befürchten muss, ist um seine Sicherheit besorgt und investiert im Ausland.
Auswandern ist nicht leicht. Bei mir war es eine Ad-hoc-Entscheidung und auf einmal verändert sich das Leben komplett. Allein eine Schule für meinen Sohn zu finden, war schwer. Meine Karriere ist kaputt. Zuletzt habe ich in der Türkei an der Universität gelehrt, das kann ich im Ausland nicht mehr. Das schadet nicht nur mir, sondern auch der Türkei. Ohne die kritischen, unabhängigen Stimmen kann der Wissenschafts- und Bildungssektor nicht überleben. Vor Kurzem habe ich gehört, dass eine Abschlussarbeit abgelehnt wurde, die sich mit Evolution beschäftigt. Wenn es so weitergeht, dann hat man eine akademische Elite, die nur den Ideen der Regierung glaubt. Aber die haben keine universelle Gültigkeit - und das isoliert die türkische Wissenschaft.
Die Türkei kann nur aus der Krise kommen, wenn sich die Bevölkerung versöhnt. Es kann nicht sein, dass die eine Hälfte die andere als Feinde betrachtet und andersrum. Natürlich hat das zum größten Teil die Regierung verschuldet, aber der Hass zieht sich inzwischen durch die ganze Gesellschaft.
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Ich habe schon vor, irgendwann wieder zurückzugehen. Schließlich will ich meine Familie und Freunde weiterhin sehen, sie können ja nicht alle auswandern. Aber momentan plane ich die Zukunft meines Sohnes - und die wird im Ausland stattfinden.