Kürzlich telefonierte ich mit einem Freund, einem in der Öffentlichkeit führenden Intellektuellen in der Türkei. Was er mir sagte, erstaunte mich nicht: Er wolle die Türkei verlassen. Vielleicht für immer, vielleicht nur "bis zu dem Tag, an dem man dort in Frieden leben kann". Demnächst wird er sich mit seiner Familie in Nordamerika niederlassen. "Ich will eine sichere Zukunft für meine Kinder."
Türkisches TagebuchYavuz Baydar ist kein Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, sondern ein türkischer Gastautor. Er wurde 1958 geboren und ist Journalist, Blogger und Mitgründer von P 24, einer unabhängigen Medienplattform in Istanbul. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Für die SZ schreibt er einen täglichen Gastbeitrag. Deutsch von Jörg Häntzschel.
Eine Wirtschaftswissenschaftlerin, die an einer der wichtigen Universitäten in Istanbul lehrte, hatte mir vor Monaten dasselbe gesagt. Weder sie noch ihr Mann, der in der Finanzbranche arbeitet, wollten noch länger bleiben. Sie packten ihre Sachen und gingen nach Kanada. Viele andere werden folgen. Vor allem die, die ihre Jobs verloren haben oder für ihre Ansichten sogar juristisch verfolgt werden, sehen keine Chance mehr für eine Karriere in den akademischen Institutionen, die von der Regierung jetzt streng kontrolliert werden.
Die Sorge um die Zukunft wird immer größer in der türkischen Elite. Für die Mitglieder dieses vorwiegend säkularen, gebildeten Teils der Gesellschaft ist die Situation noch klaustrophobischer als für alle anderen. Je größer die Instabilität, desto größer wird der Druck, sich dem intellektuellen Exodus anzuschließen. Bis vor Kurzem herrschte Optimismus in der Türkei. Viele ehemalige Auswanderer kehrten zurück, auch aus Deutschland. Doch wenn das unsichere und autoritäre Klima sich nicht bald ändert, verlassen die führenden Köpfe der Türkei die Bühne.
Skandinavische Länder registrieren schon steigende Zahlen von Einwanderern aus der Türkei. Der türkische Sender der Deutschen Welle berichtete kürzlich, dass in der ersten Jahreshälfte bereits 1719 Türken in Deutschland Asyl beantragt hätten - so viele wie im gesamten Vorjahr.
Die Zeitung Dünya berichtete am Montag, die Anfragen nach Immobilien im Ausland seien um das Vier- bis Fünffache gestiegen. Murat Uzun von der Firma Proje Beyaz sagte der Zeitung: "Die Leute versuchen, sich ein Leben im Ausland zu kaufen." Die USA, Irland, Portugal, Griechenland, Malta und die baltischen Staaten seien besonders beliebt. Adnan Bozbey von der Firma Coldwell Banker ergänzte: "Die Leute fürchten, dass in der Türkei bald Zustände herrschen wie im Nahen Osten."
- "Jetzt droht eine eiserne Zeit" (I)
- "Der Türkei droht das Ende eines unabhängigen Journalismus" (II)
- "Wir haben es mit massiven 'Säuberungen' zu tun" (III)
- "Die Verhaftungswellen hören nicht auf" (IV)
- "Ausnahme ist kein Zustand" (V)
- "Erdoğan treibt die türkischen Eliten ins Ausland" (VI)
- "Die Hexenjagd hat begonnen" (VII)
- "Erdoğan regiert per Dekret - was das heißt, weiß in der Türkei jeder" (VIII)
- "Erdoğan vollzieht den 'zivilen Staatsstreich'" (IX)
- "Erdoğan begünstigt Manipulation und Desinformation" (X)
- "Schweigen ist jetzt der Feind der Demokratie" (XI)
- "Die Türkei nimmt Angehörige in Geiselhaft" (XII)
- "'Sie werden sterben wie Kanalratten'" (XIII)
- "Wo sind die AKP-Mitglieder, die am Putsch teilgenommen haben?" (XIV)
- "Italien sollte sich lieber um die eigene Mafia kümmern" (XV)
- "Warum man Erdoğan nicht trauen kann" (XVI)
- "Du bist als nächstes dran" (XVII)
- "Wir wollen Exekutionen" (XVIII)
- "Jeder ist verdächtig" (XIX)
- "Exodus der türkischen Elite" (XX)
- "Ist es ein Verbrechen, mit einem Reporter verheiratet zu sein?" (XXI)
- "Erdoğan hält die Massen in explosiver Hypnose" (XXII)
- "Es ist Zeit aufzuwachen" (XXIII)
- Türkische Chronik (I): Wie die AKP Verschwörungstheorien über den Putsch befeuert
- Enteignungen wie im Osmanischen Reich (II)
- Haftbefehl ohne Grund (III)
- Man muss die Dinge beim Namen nennen (IV)
- Die alten Foltermethoden sind zurück in der Türkei (V)
- "Man sollte uns unseren richtigen Job machen lassen" (VI)
- Türkei zieht Schrauben der Unterdrückung weiter an (VII)
- "Bedauerlich, dass wir Journalisten das Hauptthema der Nachrichten sind"(VIII)
- Erdoğan plant eine Islamisierung der Schulen (IX)
- Was geschah wirklich in der Nacht vom 15. Juli? (X)
- Die Türkei steht kurz vor einem Bürgerkrieg (XI)
- Wie lange wird die EU der schrecklichen Eskalation standhalten? (XII)
- Verhaftete türkische Journalisten sollten Ehrenbürger werden (XIII)
- Die Kurden verlieren ihre Heimat (XIV)
- Erdoğan fegt sie einfach weg (XV)
- Erdoğan und Trump - Die Zeichen stehen auf hässliche Realpolitik (XVI)
- War der Militärputsch vorhersehbar? (XVII)
- Demokratie in der Türkei - wenn alles zerrinnt (XVIII)
- Russland wird seine Chance nutzen (XIX)
- Das Jahr eines intensiven Albtraums (XX)
- Die AKP erntet, was sie gesät hat (XXI)
- Erdoğan nähert sich seinem Ziel (XXII)
- Der Todeskampf des türkischen Schulsystems (XXIII)
- Jazz war Aktionismus (XXIV)
- Scheidung - und dann? (XXV)
- Sie wollen alle Fremdkörper "entfernen" (XXVI)
- Das Land der Fäulnis (XXVII)
- Nur noch ein kurzer Weg zum Faschismus (XXVIII)
- Die Presse als erstes Angriffsziel (XXIX)
- Prozess als Farce (XXX)
- Die neuen Jungtürken aus Köln (XXXI)
- Berufsverbot für Akademiker (XXXII)
- Dinner mit den Underdogs (XXXIII)
- Das Bangen vor dem Referendum (XXXIV)
- Mit der Türkei, wie wir sie kennen, ist es vorbei (XXXV)
- Die Unterdrückten werden ihre innere Stärke wiederfinden (XXXVI)
- Man muss auf eine demokratische Alternative hoffen (XXXVII)
- Wie weit kann man die Grausamkeit noch treiben? (XXXVIII)
- Bücher in die Verbannung (XXXIX)
- Rechtfertigen Erdoğans Schikanen einen Hungerstreik? (XL)
- Wer gegen Erdoğan ist, muss hungern (XLI)
- Jetzt wurde auch noch ein UN-Richter verurteilt (XLII)
- Das Messer hat den Knochen getroffen (XLIII)
- "Es wird ein Tag kommen, an dem das Land explodiert" (XLIV)
- Die Türkei leidet an einem geistigen Ausnahmezustand (XLV)
- Was wir verloren haben, ist schwer wieder herzustellen (XLVI)
- Erdoğan ist das personifizierte Problem der Türkei (XLVII)
- Warum im Ausland lebende Türken an ihrer Liebe zu Erdoğan festhalten (XLVIII)
- Erdoğans neuer Staat naht (XLIX)