Beuys-Ausstellung in Russland:Wenn ein Aufruf verhallt

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Musikerinnen wie Pussy Riot werden in Russland eingesperrt, zugleich schmückt sich die Kulturpolitik mit einer Schau zu Joseph Beuys. Der Grund für die ausbleibende Zensur liegt wohl darin, dass die zweimonatige Ausstellung in Moskau kaum als subversiv gelten kann.

Tim Neshitov

Gutes Timing kann auch zeitloser Kunst nicht schaden. Seit vergangener Woche läuft in Moskau eine Joseph-Beuys-Ausstellung mit dem Titel "Aufruf zur Alternative". Noch nie wurden in Russland so viele Werke von Beuys gezeigt - mehr als 500 -, noch nie wurde sein Werk so facettenreich dargestellt, mit Zeichnungen, Installationen und Videos seiner Performances, kuratiert von Eugen Blume, Beuys-Kenner und Kurator an der Nationalgalerie in Berlin. Die Ausstellung am beschaulichen Gogol-Boulevard im Zentrum Moskaus gehört zu den Höhepunkten des Deutschlandjahres. Sie fällt nun aber in eine Zeit, in der in Russland so viel über Aufrufe und Alternativen gesprochen wird wie in Deutschland nur auf Parteitagen der Grünen oder im Wahlkampf.

Joseph Beuys auf einem Foto aus dem Jahr 1979  (Foto: Hans Dürrwald/dpa)

Da in Russland seit einer politischen Ewigkeit keine Wahlkämpfe mehr stattfinden, rufen Menschen hier eigentlich dauernd zu Alternativen auf. Das tun auch Künstler und Menschen, die sich für solche halten - nur werden ihre Aufrufe meistens erst wahrgenommen, wenn das Regime ihnen den Prozess macht. Diesmal sind drei Punksängerinnen der Band Pussy Riot eingesperrt worden. Der junge Künstler Arsenij Zhiljajew schrieb in seinem Beitrag zum Katalog der Beuys-Ausstellung: "Wieder mal beobachten wir ein qualvolles Aufkommen von Hoffnung. Die Zeit ist also gekommen, um über Figuren wie Joseph Beuys nachzudenken."

Die Frage ist nur, wie man über Beuys nachdenkt. Kurator Eugen Blume betonte am Eröffnungsabend im Moskauer Museum für Zeitgenössische Kunst, die Ausstellung zeige Beuys "auf dem Weg zur Politik, die er von der Kunst her verändern wollte". Beuys' politisches Verhalten sei "kompromisslos der Freiheit verbunden" gewesen. "Jeder Mensch ist frei", sagte Blume, "wenn er den Mut hat, seine innere Freiheit als plastischen Prozess zu begreifen." Russische Kulturbürokraten denken freilich anders über Beuys nach. "Beuys' Sinnessuche ist wesensverwandt mit der russischen Seele", philosophierte Michail Schwydkoj, Sonderbeauftragter des russischen Präsidenten für internationale kulturelle Zusammenarbeit.

"Er nervt, reizt, beunruhigt"

"Beuys verstand, was das Böse im materiellen Sinn bedeutet, und er wusste um die Kraft des Guten." Ein "humanistischer Prediger" sei Beuys gewesen, was Schwydkoj wohl von Pussy Riot und anderen Künstlern, die dem Kreml und der luxusgewohnten Spitze der Orthodoxen Kirche Kopfschmerzen bereiten, nicht behaupten würde. Die Betonung liegt jeweils auf "wohl", denn keiner der Redner ging direkt auf die aktuelle Situation in Russland ein. Lediglich in Interviews am Rande der Ausstellung mutmaßte Eugen Blume, Beuys hätte sich für Pussy Riot eingesetzt. Blume zeigte sich auch überrascht, dass "Aufruf zur Alternative" ohne Weiteres erlaubt wurde.

Der Grund für die ausbleibende Zensur liegt - wohl - darin, dass die zweimonatige Ausstellung kaum als subversiv gelten kann. "Aus der Beuys'schen Weste kam beinah die ganze radikale europäische Kunst des 20. Jahrhunderts", schrieb das Regierungsblatt Rossijskaja Gaseta. "Er nervt, reizt, beunruhigt. Aber wohin denn ohne ihn? Nirgendwohin." Die Haltung russischer Behörden hing auch kaum von der Auswahl der Werke ab, die Blume getroffen hat. Er wollte "den ganzen Beuys" zeigen, und das ist ihm gelungen. Man sieht die Installation "Das Ende des XX. Jahrhunderts" (1983), die aus Beuys' berühmten 7000 Eichen auf der Documenta 7 entstand und ein globales sozialökologisches Gewissen beschwören soll. Man sieht "Straßenbahnhaltestelle - ein Monument für die Zukunft", Beuys' Beitrag zur Biennale von Venedig 1976, ein Mahnmal des Leidens und Erinnerns. Im Katalog zur Ausstellung sieht man auch - Achtung Blasphemie-Wächter! - seine Jesus-Zeichnung von 1971 mit der Aufschrift: "Der Erfinder der Dampfmaschine".

Gleich am Eingang liegt zum Mitnehmen der ins Russische übersetzte "Aufruf zur Alternative", Beuys' politischstes Manifest, erschienen 1978 in der Frankfurter Rundschau. Darin geißelt Beuys die Übermacht des Geldes und des Staates und sehnt sich nach einer "gewaltfreien Revolution für eine auf Zukunftsoffenheit angelegte evolutionäre Alternative".

Das mag in deutschen Ohren noch urradikal klingen, gehört zum Mythos Beuys doch seine humanistische Kompromisslosigkeit gegenüber einer Gesellschaftsordnung, die ja bis heute fortbesteht. In Russland aber kann man weder mit Beuys' Utopie noch mit seinem Arbeitsethos wesentliche Impulse in der Kunstszene auslösen, geschweige denn die Gesellschaft aufrütteln. "Aufruf zur Alternative" ist zwar die erste große Beuys-Ausstellung in Russland, aber russische Künstler haben Beuys längst studiert, in ihren Werken ausgelegt und teilweise verdaut.

1994, zwei Jahre nach einer Ausstellung im Puschkin-Museum, auf der Beuys- Zeichnungen gezeigt wurden, baute Kirill Preobrazhenskij eine Ju-87 aus Filzstiefeln nach - eine Hommage an einen Lieblingsstoff von Beuys und an seinen mythischen Absturz über der Krim 1944. Oleg Kulik, der vermutlich teuerste russische Künstler der Gegenwart, postulierte 1997 seine Antwort auf Beuys, als er in der New Yorker Deitch-Gallery seine Performance "I bite America and America bites me" abhielt. Kulik verbrachte zwei Wochen nackt in einer Hundehütte und kommunizierte mit Besuchern, als wäre er ein Hund. 1974 hatte Beuys in New York bei seiner Aktion "I like America and America likes me" fünf Tage mit einem Kojoten verbracht.

Ein Video dieser Kojoten-Performance ist auch auf Eugen Blumes Ausstellung zu sehen. Spricht man mit den Besuchern, spürt man kultivierte, etwas vorsichtige Neugier. Ärztin Ljudmila, 70, hat in ihrem Ruhestand bereits mehrere Vorlesungen zu Beuys im Puschkin-Museum und in der Tretjakow-Galerie besucht. "Wissen Sie, man muss sich weiterbilden. Das mit dem Kojoten verstehe ich nicht ganz, aber ich weiß, dass Beuys ein Pionier der Performance-Kunst war."

Jewgenija Krikowa, 26, selbst Künstlerin, steht mitten in der Installation "Ende des XX. Jahrhunderts". Sie sagt, die wahllos verstreuten Basaltblöcke, an deren Stelle man sich jeweils eine Eiche hinzudenken muss, erinnerten sie eher an einen Friedhof. "Aber die Installation schafft sich ihren eigenen Raum, das können nur große Künstler. Das ist das Tolle an Beuys: Er zeigt seine Kunst ohne Verpackung, ohne Erklärung, als würde er das alles für sich alleine machen und nicht für ein Publikum."

Werbetexter Pawel Schepkin, 26, sagt, er sei dankbar für die Gelegenheit, so viele Beuys-Werke auf einmal zu sehen. "Aber die Theoretisierung seiner Kunst, alles was ich bisher gelesen habe, war interessanter als die Werke selbst. Es ist, aus der Nähe betrachtet, doch eine ziemlich düstere, humorlose Welt. Das einzig Geniale finde ich seinen selbsterschaffenen Mythos über die Rettung im Krieg durch die Tataren. Kunst braucht Mythen." Beuys' Text "Aufruf zur Alternative" hat Pawel nicht zu Ende gelesen. "Das ganze 20. Jahrhundert hat doch gezeigt, dass Kunst und Politik lieber voneinander fernbleiben sollten. Sonst erdrückt entweder der Mythos der Politik den Mythos der Kunst, was in der Sowjetunion passiert ist, oder umgekehrt, wie im Falle Beuys."

Künstlerbiografien, die postsowjetische Brüche aufweisen

Vielleicht bleibt Beuys' politische Utopie auch deswegen in Russland in der Luft hängen, weil Russland derzeit keine "neue Gesellschaft des realen Sozialismus" braucht, wie Beuys sie im Aufruf von 1978 forderte, und keine schamanenhafte eurasische Mythologie, sondern erst einmal eine funktionierende, altmodische Demokratie mit freien Wahlen, freier Presse und freien Künstlern, wie Beuys selbst einer war.

Seine Ideen leben aber in einem Ausschnitt der russischen Gegenwartskunst weiter. Der junge Beuys-Kenner Arsenij Zhiljajew klagt auf seiner Internetseite: "In der heutigen Gesellschaft gibt es keinen von allen geteilten Glauben mehr an eine utopische Zukunft der Menschheit, für die man freie Individuen erziehen müsste." Zhiljajew hat in seiner preisgekrönten Installation "Vernünftiger Egoismus" Künstlerbiografien zusammengetragen, die postsowjetische Brüche aufweisen, Enttäuschungen, die zu einem "avantgardistischen Verzicht" auf Kunst geführt haben. Zhiljajew selbst verzichtet nicht auf Kunst - und engagiert sich parallel in der linksradikalen Sozialistischen Bewegung Russlands. Die versteht sich als "Alternative zur KPRF", der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation.

Joseph Beuys: Aufruf zur Alternative. Bis 14. November. Moskauer Museum für Zeitgenössische Kunst. Der Katalog kostet 25 Euro.

© SZ vom 15.09.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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