Berlinale:Zurück zur Natur

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Der große Gewinner des Abends: Der Film "Alcarràs" bekam den Goldenen Bären. (Foto: Lluis Tudela/dpa)

Im Wettbewerb der Berlinale ragen nicht die offensichtlich politischen Werke heraus, sondern Filme über Liebes- und Familiengeschichten in der Provinz.

Von Sonja Zekri

Das Raumschiff wackelt gefährlich, dabei gibt die Pilotin alles. Die Brille gegen die Sonne, schnell, herrscht sie ihre Passagiere an. Schüttet eigenhändig Benzin aus einer Gießkanne nach, schraubt an der Batterie herum. Es ist ein rasender Flug durchs All, ein großes Abenteurer und vielleicht der schönste Filmanfang dieser Berlinale. Die kleine Iris und ihre Cousins Pau und Pere sitzen in einem Autowrack am Stausee und schicken es allein durch ihre Fantasie auf eine Reise zu den Sternen.

Für einen Moment durchfährt einen der Neid über die grenzenlose Macht dieser Vorstellungskraft, über die Leichtigkeit, mit der diese Kinder die Welt in alles verwandeln können, was sie möchten. Wie unbegabt sind dafür Erwachsene, wie viel Aufwand muss dafür sogar das Kino betreiben?

Dass der Film "Alcarràs" der spanischen Regisseurin Carla Simón, der in der Berlinale im Wettbewerb läuft, seinen idyllischen Charakter nie ganz verliert, hat mit dieser kindlichen Allmacht zu tun. Mag sein, dass es für die Familie Solé auf ihrer Pfirsich-Plantage der letzte Sommer ist, weil sie zwangsgeräumt werden sollen und anstelle ihrer Bäume ein Solarpark entstehen soll. Aber die drei Kinder sitzen auf den Obstkisten, die zum Verkauf fortgezogen werden, oder in einer Baggerschaufel, als wären es Karussells, als wäre alles ein großes Spiel.

Es sind die Frauen, die alles vorantreiben, sich längst mit dem Wandel arrangiert haben

Und leben die Solés nicht tatsächlich wie auf einem eigenen Planeten? Carla Simón erzählt ihr Generationentableau fast als eine Art Kammerspiel in der wilden, freien Landschaft Kataloniens. Der Großvater hat keinen Vertrag über den Landbesitz. Wozu auch? Schließlich hat er der Familie des Besitzers im Bürgerkrieg das Leben gerettet, ein Handschlag hat damals genügt. Vater Qumet (Jordi Pujol Dolcet) ist überarbeitet und gereizt. Sein halbwüchsiger Sohn Roger (Albert Bosch), der im Maisfeld heimlich Cannabis anbaut, kann es ihm ohnehin nicht recht machen. Aber es ist eine hilflose Wut, er hat Rückenschmerzen und fällt für die Ernte aus, und seine sture Art von Männlichkeit passt bestenfalls noch auf katalanische Volksfeste. Der Fortschritt ist sowenig aufzuhalten wie die Hasen, die nachts die Pfirsiche fressen, ganz gleich, wie viele man abschießt.

Es sind die Frauen, die alles vorantreiben, sich längst mit dem Wandel arrangiert haben und darauf warten, dass die Männer endlich klarkommen. Irgendwann verliert Qumets Frau Dolors (Anna Otin) die Geduld, ohrfeigt erst ihren Sohn und dann ihren Mann, aber auch sie kann die Familie nicht erschüttern.

Mit Bildern, die zwischen der rauen Weite des Landes und der Enge dieses sommerlichen Familienlebens wechseln, lässt Carla Simón eine bedrohte Idylle entstehen: die zum Untergang verdammte Utopie einer intakten Beziehung zwischen Mensch und Erde. So zärtlich pflückt der Großvater die Feigen, dass es scheint, als locke er sie vom Baum. Wenn die protestierenden Bauern ihr Obst in der Stadt auskippen und Bagger darüber fahren, um bessere Preise zu erzwingen, wirkt dieses Bild wie ein Schock.

Mehr noch als das unentschiedene Bataclan-Drama "Un año, una noche" von Isaki Lacuesta und vielleicht sogar mehr als Phyllis Nagys konventionell erzählter Film "Call Jane" mit Elizabeth Banks und Sigourney Weaver als Abtreibungsaktivistinnen in den Sechzigerjahren fügt sich "Alcarràs" mit anderen Wettbewerbsfilmen zu so etwas wie einer globalen Aussage, einer weltweiten Sehnsucht. Auch Beiträge aus der Schweiz und aus China beschwören ein bäuerliches Leben, das hart, aber sinnerfüllt ist, in dem der Mensch seinen natürlichen Platz neben Tieren und Pflanzen einnimmt, nur nimmt, was er braucht, und den Reichtum der Erde maßvoll nutzt. "Honorable Harvest", ehrbare Ernte, hat die Ökologin Robin Wall Kimmerer das genannt.

In "Return to Dust" von Li Ruijun werden zwei Außenseiter in einer arrangierten Ehe zusammengeführt, der wortkarge Bauer Ma und Guiying, die hinkt, inkontinent ist und keine Kinder bekommen kann, weil ihre Familie sie geschlagen hat. Wie die beiden sich lieben lernen, das Land bestellen und ein Haus bauen, wie sie mit ihrem Esel Furche um Furche ackern, Ziegel um Ziegel, Weizengarbe um Weizengarbe aufschichten, das hat eine fast spirituelle Qualität. Und diese Feier von Ackerbau und Viehzucht, Flechthandwerk und Schwalbennest ist umso bemerkenswerter als das moderne China - verkörpert durch einen reichen Landbesitzer, dem Ma Blut spendet und der ihn buchstäblich aussaugt - gerade in eine völlig entgegengesetzte Richtung strebt: als Land der Turbo-Verstädterung, als digitale Weltmacht.

Michèle Brand in "Drii Winter": Ein Film über die Sonne, die Berge, die Tiere, die Bäume. (Foto: Armin Dierolf/dpa)

Auch "Drii Winter/A Piece of Sky" von Michael Koch beschwört die naturgewaltige Kulisse eines Dorfs, im Schweizer Kanton Uri, aber nicht als Postkarten-Ansicht, sondern mit einer schattigen Enge, die ebenso von den Gipfeln rührt wie von einer engmaschigen sozialen Kontrolle. Auch Koch erzählt eine Liebesgeschichte. Die lebenslustige Anna (Michèle Brand) stammt aus dem Dorf und heiratet den "Flachländer" Marco , ein Stier von einem Mann, der anpacken kann wie ein Einheimischer. Aber dann wird bei Marco ein Hirntumor entdeckt, eine Operation hält die Krankheit nicht auf. Er verändert sich, wird impulsiv, irgendwann hat er sich nicht mehr unter Kontrolle und die Situation wird für Anna unerträglich.

Michael Koch hat seinen Film mit Laienschauspielerinnen und -schauspielern besetzt. Simon Wisler, der den Marco spielt, ist selbst Bauer. Es hätte den Chor nicht gebraucht, der wie im antiken Drama vor Bergpanoramen schicksalsschwere Weisen singt, um ein Gefühl der Unentrinnbarkeit erstehen zu lassen, eines ewigen Zyklus', in dem der Mensch wird und vergeht wie alles auf der Welt. Glaubst du an Gott, fragt Annas Tochter Julia Marco in seinen besseren Tagen einmal. Sie selbst tue das nicht, stattdessen glaube sie an die Sonne, die Berge, die Tiere, die Bäume.

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