Berlinale:Auf dem Weg nach Washington

Lesezeit: 4 min

Alexander Scheer (li.) und Meltem Kaptan in "Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush" von Andreas Dresen. (Foto: Andreas Hoefer/dpa)

Andreas Dresens Film "Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush" glänzt im Berlinale-Wettbewerb mit einer grandiosen Hauptdarstellerin, während "A E I O U - Das schnelle Alphabet der Liebe" von Nicolette Krebitz über das A nicht hinauskommt.

Von Sonja Zekri

Nach der Hälfte des Festivals zeichnet sich ab: Die Berlinale ist offenbar kein Superspreader-Event. Die Schlangen vor den Testbussen, das Vorzeigen von Zertifikaten, Tickets, Badges bei Dutzenden hilfsbereiter junger Menschen, die halb leeren Kinos ohne auch nur eine Bionade - Maskenpflicht! - sind nach der Hälfte der Filmfestspiele Routine. Ein Viertel weniger Filme, nur halb so viele Journalisten wie sonst: Die Berlinale als Leuchtturm der Hoffnung ist performativ eine ziemlich ausgemergelte Angelegenheit. Und der Potsdamer Platz ist zugig wie immer.

Ein Film warm wie ein Sonnenstrahl. Er handelt von Guantanamo

In dieses doch etwas fröstelige Festival-Geschehen nun bricht ein Film ein wie ein Sonnenstrahl, hell und voller Wärme und mit all dem Witz und der Menschlichkeit, die in diesen Tagen so bitter fehlen. Dieser Film handelt von Guantanamo.

"Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush" von Andreas Dresen ist einer von zwei deutschen Wettbewerbsbeiträgen und erzählt die Geschichte von Murat Kurnaz aus Bremen, der 2001 verschleppt wurde und fast fünf Jahre unschuldig in Guantanamo saß. Wäre es nach der Bundesregierung und nach dem damaligen Kanzleramtschef und gerade wiedergewählten Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier gegangen, säße er dort womöglich noch immer. Die USA wollten Kurnaz schon 2002 freilassen, aber Deutschland hatte kein Interesse.

Nur hatten Deutschland, die USA und George W. Bush die Rechnung ohne Kurnaz' Mutter Rabiye gemacht, die ihren Sohn in fünf Jahren mit der Hilfe des Anwalts Bernhard Docke freikämpfte. Das Berlinale-Programm bezeichnet Rabiye in bildungsbürgerlicher Bräsigkeit als "einfache Frau", als hinge die Komplexität eines Charakters von akademischen Graden ab. Dabei braucht es nur zwei Einstellungen und man begreift: Diese Frau spielt in einer eigenen Klasse. Murat ist nicht aufzufinden, ungeduldig hämmert seine Mutter an die Tür: "Mach auf oder ich schneid' deinen Bart ab!" Sie wirbelt durch das Reihenhaus, tätschelt den anderen Söhnen den Kopf, rauscht ab in die Moschee, in der Murat sonst betet, ein Messer in der Handtasche. Rabiye Kurnaz hat es nicht so mit der Religion, der Prediger ist ein Scharfmacher. Man weiß nie. Was sie aber weiß, ist, dass ihr Murat nichts Schlimmes getan hat, er ist ja kein Taliban. "Er sieht aber so aus", sagt die Schwester. - "Und wie siehst du aus? Wie eine deutsche Friseuse."

Gespielt wird Rabiye Kurnaz von der deutsch-türkischen Comedienne Meltem Kaptan. Es ist ihre erste Hauptrolle - und ein Casting-Wunder. Kaptans Rabiye ist eine mütterliche Wuchtbrumme mit blondiertem Minipli, die das bilderreiche deutsch-türkische Idiom (Drehbuch: Laila Stieler) in perlender Koloratur verströmt: "Hundertmal habe ich ihm gesagt, Heimat ist, wo man satt wird."

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Gemeinsam mit dem Anwalt Bernhard Docke zieht sie bis vor den Supreme Court, damit die US-Justiz endlich die Verantwortung für Häftlinge in Guantanamo übernimmt. Alexander Scheer, der für Dresen schon den schillernden DDR-Liedermacher "Gundermann" gespielt hat, ist so groß und hager wie der echte Kurnaz-Anwalt Docke, und als Schauspieler klug genug, um gegen Kaptans Löwinnen-Präsenz gar nicht erst anzutreten. Je überbordender und naturgewaltiger sie wird, desto reduzierter und präziser spielt Scheer. Das schützt den Film nicht nur vor Pygmalion-Kitsch - deutscher Akademiker erklärt unbedarfter türkischer Hausfrau die große Welt -, sondern schafft auch eine große Komik. Auf einer Washington-Reise rafft Docke seinen Mut zusammen und bietet seiner Mandantin das Du an, streckt in wunderbar klemmiger Zugewandtheit die Hand aus: "Ich bin Bernhard." Darauf sie: "Weiß ich doch."

Nach dem rasanten Anfang hätte "Rabiye Kurnaz gegen George Bush" das Zeug zu einer großen politischen Farce gehabt, verliert dann aber etwas an Tempo. Die Feier des liberalen, diversen, moralisch intakten Amerika, in dem sich sogar Hollywood-Stars für die Guantanamo-Opfer einsetzen wie Tim Williams, der im Film sich selbst spielt, hätte Dresen ruhig den Amerikanern selbst überlassen können. Dieses Genre beherrschen sie wie niemand sonst.

In der Talkshow feixen Männer über ihre Bikinibilder

Der echte Murat Kurnaz ist inzwischen verheiratet und hat drei Kinder, er wurde nie mehr auffällig. Die deutsche Politik hat sich nie bei ihm entschuldigt. Rabiye Kurnaz wurde nach seiner Entlassung sehr krank, aber es geht ihr wieder besser. Im Film fährt die Familie am Ende mit dem gerade zurückgekehrten Sohn durch die Nacht. Murat würde jetzt gern anhalten und einen Moment allein sein. "Versteh' ich", sagt seine Mutter: "Ich komm' mit."

Auch der zweite deutsche Wettbewerbsbeitrag hätte durchaus das Zeug zu einer bissigen, auch politischen Komödie gehabt, nur kommt "A E I O U - Das schnelle Alphabet der Liebe" von Nicolette Krebitz, wenn man so will, über das A nicht hinaus. Die 60-jährige Schauspielerin Anna (Sophie Rois) hat schon bessere Tage gesehen, bei einem Hörspiel wird ihr Partner zudringlich, in einer Talkshow fachsimpeln zwei Männern feixend über Bikinibilder von ihr, und dann wird ihr vor der Berliner "Paris Bar" auch noch die Handtasche gestohlen. Der Dieb ist der 17-jährige Adrian (Milan Herms), ein schwer erziehbarer Problemjugendlicher, der plötzlich zum Sprachunterricht in ihrer Wohnung steht, und, ja, sie verlieben sich.

In jüngster Zeit gibt es einige Filme, die großen deutschen Schauspielerinnen auf den Leib geschrieben zu sein scheinen - "Lara" mit Corinna Harfouch ist einer, "Das Vorspiel" mit Nina Hoss ein anderer. Allerdings ist diese Idee oft überzeugender als das Ergebnis, denn meist sind es trübe Schicksale künstlerisch begabter Nervensägen. "A E I O U" will erkennbar eine freundlichere Geschichte des weiblichen Stars jenseits der 50 erzählen. Sophie Rois besitzt alle schroffe Grandezza, die es dafür braucht.

Eine Ballade zweier schwer Vermittelbarer hätte Krebitz' Film werden könne, vielleicht die Romanze eines Gangsterpärchens, schließlich sind beide gewohnheitsmäßige Ladendiebe. Umso bedauerlicher, dass "A E I O U" von der Anbahnung - sie kocht Kakao, er isst ihre Suppe - über die Geschenke - ein Lippenstift, ein schwarzes Kleid - bis zu den Sex-Szenen so altmodisch daherkommt wie ein Liselotte-Pulver-Film.

Eine ähnliche Verschwendung seiner Hauptdarstellerin betreibt "Both Sides of the Blade" von Claire Denis. Zwei Stunden lang muss Juliette Binoche als Frau zwischen zwei Männern leiden, bis sie den Ex-Knacki Jean erwartbarerweise verlässt.

Bildstärker, tiefer, auch überraschender ist Kamila Andinis Frauenporträt "Before, Then & Now - Nana". Nana hat im indonesischen Unabhängigkeitskrieg in den Sechzigerjahren Bruder, Mann und Sohn verloren. Ausgerechnet die Geliebte ihres neuen Mannes hilft ihr, Schuld und Konventionen hinter sich zu lassen.

Eine fast archaische Abhandlung von weiblicher Gewalt und Mutterschaft versucht hingegen Ursula Meier mit ihrem Film "La ligne", kommt nach dem fulminanten Einstieg einer um sich schlagenden Frau (Stéphanie Blanchoud) allerdings nicht recht vom Fleck. Und auch Ulrich Seidls Film "Rimini", das Porträt des heruntergekommenen Schlagerstars und Gigolos Richie Bravo hat trotz gewohnt schonungsloser Darstellung von Rassismus und Sex im Alter seine Längen. Noch ist alles drin.

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