Berlinale: die Preisverleihung:Wie ein Versprechen

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Die spanische Regisseurin Carla Simón wurde für "Alcarràs" mit dem Goldenen Bären für den besten Film ausgezeichnet. (Foto: John MacDougall/AFP)

Diese Berlinale wird nicht als die glanzvollste in die Festivalgeschichte eingehen - aber sie hat ein paar glänzende Preisträger.

Von Sonja Zekri

Dass Schauspieler Leinwandpräsenz haben oder zumindest haben sollten, gehört zum Handwerk. Wer sie nicht hat, muss sie lernen. Die Wirkung von Meltem Kaptan aber ist damit noch lange nicht beschrieben, nicht der Effekt, wenn sie eine Bühne betritt wie jene des Berlinale-Palasts zur Preisverleihung der 72. Internationalen Filmfestspiele, nicht diese Energie, die direkt aus der Erde in sie fährt - und die sie direkt an andere Menschen weitergibt, als wäre sie ein Medium.

Kaptan, geboren 1980 in Gütersloh, aufgewachsen im westfälischen Harsewinkel, hat in Istanbul (Schauspiel), Washington (Performing Arts) und Marburg (Literaturwissenschaften, Malerei) studiert. Sie moderiert, tritt als Comedienne auf und ist als Titelheldin in Andreas Dresens "Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush", ihrer ersten Hauptrolle, der Star dieser Berlinale. Dass sie für ihre Darstellung der kämpferische Mutter des Guantanamo-Häftlings Murat Kurnaz mit einem Silbernen Bären als beste Darstellerin ausgezeichnet wurde, hatten viele erwartet. So sprudelnd war ihr Witz in dieser Rolle, so genau ihr Timing, dass sie für den Preis eine natürliche Kandidatin war. In ihre Dankesrede streute sie eine kurze Liebeserklärung an alle auf Türkisch ein und widmete ihren Preis dann der echten Rabiye Kurnaz und allen Müttern, deren Liebe "stärker ist als alle Grenzen". Jahr um Jahr werden neue und vielseitigere Frauenrollen gefordert. Dies ist eine.

"Geh's an wie ein Türke, aber beende es wie ein Deutscher" - preiswürdige Drehbuchsätze

Und noch ein Silberner Bär ging an Dresens Film. Den Preis für das beste Drehbuch bekam die Autorin Laila Stieler, die bereits das Buch für "Gundermann" geschrieben hatte. Für "Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush" hat sie den Sound der deutsch-türkischen Community in Sätze gefasst, die dringend Bestandteil künftiger Integrationsdebatten werden sollten. Einer lautet: "Geh's an wie ein Türke, aber beende es wie ein Deutscher."

Wenn es so etwas wie die emotionale Temperatur eines Filmes gibt, dann liegt "Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush" gar nicht so weit entfernt vom Hauptgewinner des Goldenen Bären für den besten Film. "Alcarràs" von der spanischen Regisseurin Carla Simón ist das Porträt einer Familie in Katalonien, die einen wahrscheinlich letzten Sommer auf ihrer Pfirsich-Plantage verbringt, weil an dieser Stelle Solarpaneele errichtet werden sollen.

Zu Beginn des Films trägt ein riesiger Kran das Auto weg, in dem die Kinder Raumschiff gespielt haben. Und man ahnt, dass etwas zu Ende geht, dass der Kampf der Familie Solé um ihr Land keine großen Chancen hat. Simón schenkt jeder Generation einen liebevollen Blick: den Großeltern, die immer dieselben Lieder singen von der Freundschaft und der Heimat und dem Krieg; Vater Qumet (Jordi Pujol Dolcet) und Mutter Dolors (Anna Otin) - er ist der Arbeit und seiner Rolle als Familienoberhaupt längst nicht mehr gewachsen, sie greift ordnend ein, während Qumet sich völlig verrennt, kommt mit den Frauen beispielsweise zum Pflücken, weil klar ist, dass die Männer es allein nicht schaffen.

Der große Gewinner des Abends: Der Film "Alcarràs" bekam den Goldenen Bären. (Foto: Lluis Tudela/dpa)

Und die Kinder. Qumets Teenager-Sohn Roger (Albert Bosch) versucht, seinem Vater zu gefallen, seinen Vater zu kopieren, und trotzdem einen eigenen Weg zu suchen. Mariona (Xènia Roset) übt Karaoke, und die kleine Iris (Ainet Jounou) kommandiert ihre Cousins herum, wirft mit Salatköpfen, spielt Krieg und ist das eigentliche Energiefeld des Films.

Es gibt Spannungen in der Familie, von außen, von innen. Zwischen Vater und Sohn funktioniert es nicht besonders. Eine Tante ist lesbisch, was niemand an die große Glocke hängt. Ein Onkel hat sich auf die Seite der Solarpaneel-Betreiber geschlagen. Aber all dies kann die traditionelle Architektur der Großfamilie vielleicht ins Wanken bringen, aber nicht zum Einsturz. Wenn die Frauen Rezepte austauschen, schwelgen sie von der Kochkunst ihrer Mütter, aber die Sentimentalität wird durch Realismus ausbalanciert. "Mama nahm keinen Mixer", sagt eine. "Sie hatte ja keinen", entgegnet eine andere trocken.

Ein ununterbrochener Trubel herrscht in diesem Film, ein völliger Mangel an Distanz. Alle schauen allen zu, beim Essen, beim Umziehen, jeder hat eine Meinung und teilt sie gern mit. Und als wäre das nicht eng genug, rücken sie für ein Foto noch näher zusammen oder werfen sich gegenseitig in den Pool, und wenn Iris das Lieblingslied des Großvaters singt, wischen sich einige eine Träne fort. Nach den Pandemie-Erfahrungen der vergangenen Jahre wirken diese Bilder wie ein Versprechen. Die Einsamkeit und der Zwangsabstand werden nicht ewig dauern. Die menschliche Gemeinschaft ist noch da, und sie ist noch intakt.

So stark ist der Magnetismus dieses sozialen Gefüges, dass die Familie sogar die afrikanischen Saisonarbeiter wie alte Bekannte aufnimmt, was angesichts der krassen sozialen Realitäten dann doch ein wenig beschönigend wirkt.

Wichtigster Schauplatz all der Bewegungen und Beziehungen aber ist das Feld, die Bäume, das Land. Das gemeinsame Ernten bringt alle zusammen, denn die Menschen leben mit den Früchten, von den Früchten, von Pfirsichen, Tomaten, Wassermelonen, die einzeln gepflückt und vorsichtig in Kisten verpackt werden müssen, die gewogen, transportiert und umgeladen werden. Die Bewahrung der Schöpfung macht sich schließlich nicht von selbst, und der Garten Eden ist ein ziemlich brutaler Arbeitsplatz. Nicht alle Bären-Filme waren so überzeugend.

Preis der Jury, Großer Preis der Jury - es gibt schon recht viele Auszeichnungen bei diesem Festival

Der Silberne Bär für die beste Nebenrolle ging sehr verdient an die indonesische Schauspielerin Laura Basuki für ihr feines Spiel als rätselhafte und freiheitsliebende Freundin in Kamila Andinis Film "Nana/Before, Now & Then". Anders als früher werden Haupt- und Nebenrollen bei der Berlinale nicht mehr nach männlich und weiblich getrennt ausgezeichnet, sondern genderneutral für die "beste schauspielerische Leistung". Was hat es also zu bedeuten, wenn in diesem Jahr zwei Frauen geehrt wurden? Wenn überhaupt fast nur Frauen Bären bekamen? Vielleicht dies: Im kommenden Jahr dürfen sich die Männer mehr Hoffnungen machen.

Der Silberne Bär für die beste Hauptdarstellerin ging an Meltem Kaptan für den Film "Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush". (Foto: Stefanie Loos/AFP)

Das Alpendrama "Drii Winter/A Piece of Sky" von Michael Koch - eine weitere kraftvolle Kontemplation über Mensch und Natur - hätte durchaus mehr verdient als nur eine lobende Erwähnung. Natalia López Gallardos' "Robe of Gems", eine Studie über Drogenkriminalität und Gewalt im ländlichen Mexiko, bekam den Preis der Jury, "The Novelist's Film" des südkoreanischen Regisseurs Hong Sang-soo den Großen Preis der Jury, wobei das größte Geheimnis sein dürfte, worin genau der Unterschied zwischen diesen beiden Auszeichnungen besteht.

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Rithy Panhs Dioramen-Erzählung "Everything Will Be OK" über Tiere an der Macht, die genauso zu Lügnern und Schlächtern werden wie die Menschen vor ihnen (Silberner Bär für eine herausragende künstlerische Leistung) ist mit seinen selbstgeschnitzten Figurenensembles zwar eindrucksvoll, aber inhaltlich ausgefranst. Und der Silberne Regie-Bär für Claire Denis' Geschichte einer reifen Liebe mit Juliette Binoche ("Both Sides of the Blades") ist mehr als wohlwollend.

Es war sicherlich nicht die glanzvollste Berlinale, die Zahl der überwältigenden Filme begrenzt, Hollywood fast ganz abwesend, der Andrang der Stars noch übersichtlicher als sonst. Nicht einmal Isabelle Huppert, die einen Ehrenbären bekam, konnte anreisen, sie war kurz vor der Verleihung positiv auf das Coronavirus getestet worden. Cannes und Venedig, im Frühling und im Spätsommer, werden sicherlich wieder mehr glänzen können, mit weniger Restriktionen bei niedrigen Inzidenzen und mehr bekannten Namen. Berlins Februar-Problem ist durch Omikron nicht besser geworden. Dass es ein Kraftakt war, dieses Festival durchzuziehen, sah man den beiden Chefs Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian in den vergangenen Tagen und auch bei der Preisverleihung an. Jetzt haben sie das Wichtigste geschafft, auch wenn das Festival noch bis Ende der Woche fürs Berliner Publikum läuft.

War es das wert? Nun, für die Filmemacherinnen und Filmemacher, die vor Dankbarkeit kaum Worte fanden und die eine große Bühne bekamen, die ihren kleinen Filmen sonst verwehrt geblieben wäre, ganz gewiss. Und wenn man bedenkt, dass die Berlinale im Pandemie-Tief begann, aber pünktlich zur Preisverleihung eine "Fastnormalität" in Aussicht gestellt wurde, dann wird man sich an diese Festspiele vielleicht eines Tages erinnern als die Berlinale, die der Anfang vom Ende der Einschränkungen war. Es gibt Schlimmeres, was über eine Berlinale gesagt werden kann.

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