Bayreuther Festspiele:Über allem schwebt Wagners Revolutionsdevise

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Wie die Pietà, nur andersrum: Thannhäuser (Stephen Gould) mit der Leiche seiner unglücklichen Liebe Elisabeth (Lise Davidsen) im Arm. (Foto: dpa)

Tobias Kratzers Inszenierung des "Tannhäuser" spielt die Bayreuther Bühnengeschichte der Nachkriegszeit in Zitaten durch und schafft doch viel Neues. Allein der Dirigent wirkt deplatziert.

Von Reinhard J. Brembeck, Bayreuth

Ich will alles: Das ist eine Devise, die zwar verlockend das totale Glück verspricht, sich im wirklichen Leben aber nur schwer verwirklichen lässt. Nur wenige sprechen sie folglich im Leben aus, noch wenigere können danach tatsächlich leben. Heinrich Tannhäuser, Opernsänger von Beruf, gehört zu diesen wenigen. Er ist erfolgreich, er hat sogar in Bayreuth bei den Festspielen reüssiert. Aber ihm ist der Musikbetreib mit seinen Eifersüchteleien, seiner Kleinkariertheit, seiner geistigen Beschränktheit und bürgerlichen Rumtuerei zu wenig. Also hat er sich eine orange Perücke übergestülpt, einen buntscheckigen Frack angezogen, einen Zylinder aufgesetzt und ist zum Aussteiger geworden.

Tannhäuser hat sich zusammengetan mit einem anarchistischen Künstlertrio, bestehend aus der Rockröhre und Männerverschlingerin Venus, einer schrill aufgetakelten Prankqueen (Le Gateau Chocolat) und einem "Blechtrommel"-Oskar-Matzerath-Imitator (Manni Laudenbach). Dieses schräge Quartett tingelt herum, mischt Dorfvaritetés auf und befolgt streng Richard Wagners frühe Revolutionsdevise "Frei im Wollen, frei im Thun, frei im Genießen". So leben sie die sexsüchtige, dreckige, anarchistische und hedonistische Seite von Kunst, die von der Hochkultur eifersüchtig als banal, niveaulos oder peinlich abgetan wird. Weil sich die Hochkultur noch immer nicht eingestehen will, dass das Hehre und der Kitsch, die Werktreue und die Respektlosigkeit, das Sublime und die Schmiere siamesische Zwillinge sind. Der eine kann ohne den anderen nicht existieren.

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Tannhäusers Ausflug in den Tingeltangel geht so lange gut, so lange das Dolcefarniente und die Anarchie unverbindlich frech sind. Venus (und nicht der Mann wie in der Werbung üblich) sitzt am Steuer eines aus der Zeit gefallenen Kastenwagens. Als das Quartett ein Drive-In ausnimmt und sich der Wachmann ihnen in den Weg stellt, fährt ihn Venus über den Haufen und tot. Herrlich, wie das im Bayreuther Festspielhaus bei der Eröffnung der diesjährigen Festspiele in einer raffinierten Mischung aus Film, Livevideos und real gespielten Elementen gezeigt wird. Tannhäuser hat danach die Schnauze voll vom Aussteigertum, er hat dessen Grenzen genauso durchschaut wie zuvor die des Hochkulturbetriebs. Dreimal jubelt er seine Venus an: Stephen Gould singt langsam, männlich, leidenschaftlich. Dann aber formuliert er sofort seine Sehnsucht nach der gesicherten bürgerlichen Künstlerwelt. Dreimal macht er das, zunehmend insistierend. Die erst kurz vor der Premiere eingesprungene Elena Zhidkova widerspricht resolut, direkt, mit Verve. Dann hat sie die Schnauze voll, schmeißt ihn aus dem Kastenwagen. Um diesen Schritt ganz schnell zu bereuen.

Denn Tannhäuser trifft in Bayreuth auf die alten, ihn anödenden Kumpels und seinen größten Konkurrenten Wolfram. Der wäre gern so viril vital wie Tannhäuser, er ist aber elegant, subtil, angepasst. Markus Eiche macht das sehr schön deutlich. Vor allem nervt diesen Wolfram, dass Tannhäuser mit seinen Rüpeleien die oberkorrekte Elisabeth und zudem ohne es mitzukriegen erobert hat. Denn Wolfram ist selber hemmungslos scharf auf diese Frau, hat aber bis zuletzt keine Chance. Erst als Elisabeth jede Hoffnung verloren hat, Tannhäuser in der Welt des Gutbürgerlichen sich anzuehelichen, gibt sie sich erst voller Verzweiflung in einem Quickfick Wolfram hin, um sich dann bluttriefend selbst zu morden. Lise Davidsen hat eine herbe scharfe Stimme, die furchtbare Autorität ausstrahlt, sie kann auch bedrohlich leise Hochtöne und ihr Gebet ist ein eisig formuliertes Vermächtnis. Das ist eine Gestalt aus fernen Zeiten, als es Frauen nur mit Macht, Kraft und Unerbittlichkeit möglich war, dem Patriachat zu begegnen.

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Regisseur Tobias Kratzer spielt auf der Bühne die Bayreuther Bühnengeschichte der Nachkriegszeit in Zitaten durch. Der Hase auf dem Kastenwagen erinnert an Christoph Schlingensiefs "Parsifal"-Inszenierung, dem Bayreuth auch die bis dato nicht vorhandene Drehbühne verdankt, die dann in Frank Castorfs trashig genialer "Ring"-Regie eine zentrale Rolle spielte und jetzt auch wieder Kratzers Trash im dritten Akt, die Welt ist völlig aus den Fugen, durchdreht.

Wenn im zweiten Akt die Biedermänner zum Sängerkrieg auf der Wartburg antreten, dann sieht das so aus, wie es Wolfgang Wagner (der Vater der jetzigen Festspielleiterin Katharina wäre gerade 100 Jahre alt geworden) das in den 1960er Jahren inszeniert hätte: klobig und bieder in schwarzweiß und mit viel Rumgestehe. Dazu passt auch Stephen Millings Landgraf, der salbadernd volltönend staatstragende Banalitäten mit Tönen beglaubigt. Bald aber lässt Kratzer (danke, danke, danke!) das Trio Venus/Gateau/Laudenbach ins Festspielhaus einsteigen. Sie hängen an den Präsentierbalkon das Plakat mit dem Wagner-Motto ("Frei im Wollen, frei im Thun . . ."), Gateau schäkert mit dem Foto von Christian Thielemann, der kleinwüchsige Laudenbach mit dem von James Levine (beides sind verdiente Bayreuth-Dirigenten, honi soit qui mal y pense) und Venus überwältig, entkleidet und fesselt eine Choristin, um dann verkleidet am Sängerkrieg teilzunehmen, der bald zur mit Waffengewalt geführten Grundsatzdiskussion Hochkultur versus Underground wird.

Warum nur hat sich Tannhäuser in diese Elisabeth verliebt? Sie ist streng wie eine Lehrerin, kleingeistig wie eine Pharisäerin, ganz auf die Etikette bedacht und aufs Funktionieren der bürgerlichen Gesellschaft mit seinen kleinlichen Regeln. Mit Wagners "Frei im Wollen etc." kann sie gar nichts anfangen. Aber die Gefühle und die Liebe treiben diese beiden so gegensätzlichen Menschen einander in die Arme. Sie mag spüren, dass ihr Tannhäusers Nonkonformismus fehlt, er findet bei ihr eine Standhaftigkeit, die er bei Venus schmerzlich vermisst. Aber das sind Oberflächlichkeiten. Es mag gute und benennbare Gründe dafür geben, warum sich zwei Menschen lieben, doch das sind Marginalien, hinter denen sich etwas Ungeheures und Unerklärliches auftürmt. So auch bei Tannhäuser und Elisabeth. Deshalb kann er zuletzt auch nicht zu Venus zurück. In Umkehrung des mit Maria und dem toten Jesus religiös besetzten Pietà-Schemas sitzt Tannhäuser am Ende mit der toten Elisabeth im Schoß da.

Das "ich will alles" ist schiefgegangen, aber das beweist nichts gegen das wirkliche Leben, das ist bloß eine gelungene Inszenierung. Während Waleri Gergijew handwerklich korrekt aber uninspiriert flach an der Partitur entlangmusizieren lässt, keinerlei Verständnis für das große Leidenschaftsdrama auf der Bühne zeigt und dem Orchester (im Gegensatz zum Chor) nur einen hölzern analytischen Klang abwringt und in keinem Moment die Handlung vorantreibt oder gar bestimmt. Dafür bekommt er mehr Buhs und weniger Beifall als Regisseur Tobias Kratzer. Nächstes Jahr soll Gergijew angeblich nicht mehr dabei sein.

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