Barrie Koskys "On Ecstasy":Ekstase auf dem Suppenlöffel

Lesezeit: 2 min

"Nicht jedes Stück ist eine Antwort auf die Probleme der Welt." Barrie Kosky in der Komischen Oper Berlin. (Foto: Frederic Kern/imago images/Future Image)

Der Regisseur Barrie Kosky plaudert in einem Küchen- und Opernnotizbuch entspannt über musikalische und andere Rauscherfahrungen seines Lebens.

Von Wolfgang Schreiber

"Musiktheater", stellt Barrie Kosky fest, "ist flüchtig, es entsteht und vergeht ..." Der Regisseur und Intendant der Komischen Oper Berlin ist ein Melancholiker und gab sich philosophisch, als er neulich seine letzte Berliner Spielzeit präsentierte. Er hat allerdings einen Ersatzschauplatz gefunden, dauerhafter als die windige Bühnenkunst - ein Buch, Titel "On Ecstasy", kein Romanwälzer, nur ein Libretto, zu Deutsch Büchlein, groß wie eine geräumige Handfläche. Darin: Erinnerungen und Reflexionen eines Mannes, der sich zu den potenten Musiktheatermachern der Gegenwart hochgearbeitet hat. Barrie Kosky wählt, wie auf der Bühne, wenn er via Mikro sein Publikum bezirzt, den persönlichen Tonfall, lässt den Emotionen freien Lauf. Aber gleich "Ekstase"? Diese sei ein "mit mystischer oder prophetischer Begeisterung in Verbindung stehendes Gefühl von Trance, Rausch oder Verzückung".

Um das dingfest zu machen, denkt Kosky, der 1967 in Melbourne geborene Arbeitsgenussmensch, an konkrete Augenblicke des Glücksgefühls. Die sind zuerst mal mit seiner polnischen Großmutter und deren Kochkünsten verbunden, mit ihrer Hühnersuppe. Kosky erinnert sich an das "siebenjährige jüdische Kind" und dessen frühen Essgenuss: "Der erste Löffel, mit dem die heiße Suppe in meinen Mund flutete und meine Kehle hinabrann, war tiefe metaphysische Verzückung." Und die Großmutter öffnete ihm dazu noch das Tor zum Opernglück, indem sie von Madama Butterfly erzählte, Puccinis süchtig machender Unglücksmusik. Die kratzende Schallplatte davon war nur Vorspiel zum Besuch im Princess Theatre zu Melbourne, wo die Stimme der Sängerin "meine Trommelfelle streichelte, in meinen Körper eindrang und mich schwindlig machte".

Der Junge begreift: Theater ist der ideale Ort für alles Ekstatische

Als der Junge mit fünfzehn die Musik Gustav Mahlers entdeckt, den mystischen Beginn der ersten Symphonie, "die 56 Takte eines tiefen Streicherbrummens in der untersten Oktave", da erwacht er plötzlich in einer ganz anderen Welt, denn "auf einmal tut sich eine weiträumige Landschaft auf, voller Möglichkeiten, ohne Anfang oder Ende". Ekstase und Schrecknis der jugendlichen Mahler-Verführung lässt noch den Erwachsenen staunen: "Welcher Komponist bringt auf derselben Seite einer sinfonischen Partitur einen Trauermarsch, ein Kinderlied und eine schmissige Klezmer-Band zusammen?" Die éducation sentimentale des Jungen wird künstlerisch effizient, da er Mahlers Theatralik verstehen lernt, dessen Sinn "für Charaktere, für Szene, für dramatische Konfrontationen, für Licht, für Klangregie". Und er begreift, dass das Theater der ideale Ort für alles Ekstatische ist, die Bühne für "eine alchemistische Mischung aus Manipulation, Ritual und Stimulation".

Barrie Kosky: On Ecstasy. Aus dem Englischen von Ulrich Lenz. Verlag Theater der Zeit, Berlin 2021. 104 Seiten, 15 Euro. (Foto: N/A)

Kosky musste einfach Richard Wagner entdecken, den "Meister theatralischer Phantasmagorien". Er entschlüsselt den "Fliegenden Holländer", "Lohengrin", den "Tristan" und landet beim denkbar Größten, Wagners "Ring des Nibelungen" und somit in der eigenen Gegenwart. "More ecstasy" hat Barrie Kosky die letzten, leider eher ernüchternden 20 Seiten seines Buchs überschrieben. Für die mag dem Theater-Workaholic die Schreibgeduld gefehlt haben. Die Ekstasen der Kindheit hatte er 2007 noch selbst verfasst und in Melbourne zum Buch gemacht, jetzt lässt er Ulrich Lenz, den Übersetzer aus dem Englischen, ein paar Fragen zur Gegenwart stellen.

Keine Ekstasenfortschreibung im Intendanzbüro der Berliner Komischen Oper, aber unbedingt dort die Wiederentdeckung der Operetten der Weimarer Republik. Keineswegs ekstatisch, aber doch hochbedeutsam die Wagner-Arbeit in Bayreuth, Koskys zeit- und nazikritischen "Meistersinger". Und mit der Hühnersuppe der Großmutter wenigstens vergleichbar ein japanisches Genussereignis, das 15-Gänge-Menü in Tokio - der Opernmann an Stäbchen.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: