Ausstellung in Baden-Baden:Zu schön, um verrückt zu sein

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"Ihr Werk ist voll von Göttinnen, von Helden und Sirenen, und auch von Gott", schwärmte der Architekt Le Corbusier vor Gemälden von André Bauchant wie dem "Le triomphe de Neptune" aus dem Jahr 1929. Dabei hatte der Gärtner Bauchant Griechenland und seine Kultur nicht etwa auf Studienreisen kennengelernt, sondern als Soldat. (Foto: André Bauchant/Sammlung Zander © VG Bild-Kunst, Bonn 2022André Bauchant, Le triomphe de Neptune, 1929)

Was verbindet den malenden Zöllner mit dem Schiffer an der Staffelei? Baden-Baden zeigt die Urahnen der Outsider-Kunst.

Von Kito Nedo

In "keinem Lustspiel, keinem Zirkus" habe er "solches Gelächter erlebt", schrieb Wilhelm Uhde, der in Paris lebende deutsche Kunsthistoriker, Schriftsteller und Kunsthändler, einmal über die Gruppenausstellung "Salon des Indépendants" in der französischen Hauptstadt. Die juryfreie Jahresausstellung der "Unabhängigen", die eine Gegenveranstaltung zum traditionsreichen und elitären "Pariser Salon" war, war Ende des neunzehnten, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts sehr beliebt beim Publikum. Dort präsentierte auch der im Jahr 1844 geborene Maler Henri Rousseau, der nie eine Kunstakademie besucht hatte, von 1886 an fast jedes Jahr, bis zu seinem Tod seine neuesten Gemälde.

Die Bilder wirken wie "ein komischer Unfall auf den Boulevards"

"Rousseaus Bilder sind die große Attraktion", schrieb Uhde, der mit dem Maler befreundet war. "Hunderte stehen vor ihnen und lachen. Sie wirken wie ein komischer Unfall auf den Boulevards, der zwei Monate dauert; eine Gruppe löst die andere ab." Wer Rousseaus Bilder damals lobte, den hätte man auf der Stelle für verrückt erklärt. "Sie hätten einen nach Charenton gebracht, wenn man von Qualitäten gesprochen hätte." Das war natürlich maßlos übertrieben. Uhde, der entschiedene Bewunderer und Förderer Rousseaus, wurde keineswegs in das Charenton-Krankenhaus mit der geschlossenen Abteilung vor den Toren von Paris gefahren.

Rousseau selbst nahm die allgemeine Belustigung über seine Kunst offenbar mit Gleichmut hin. Der Autodidakt, der in der Szene den Beinamen "Le Douanier" - "Der Zöllner" trug, weil er tagsüber als kleiner Angestellter der Pariser Zollbehörde arbeitete, um seinen bescheidenen Lebensunterhalt zu verdienen, war felsenfest von seiner künstlerischen Berufung überzeugt. Als der Künstler 1910 starb, war zunächst nicht genügend Geld für ein ordentliches Begräbnis vorhanden. Heute freilich finden sich seine Gemälde in allen großen Museen dieser Welt.

Für Uhde war der "Douanier", der "Zöllner", die Leitfigur für einen ganzen Kreis von Autodidakten, Sonderlingen und künstlerischen Außenseitern, denen er schließlich 1928 eine thematische Gruppenausstellung mit dem Titel "Peintres du Coeur-Sacré" in der Pariser Galerie des Quatre Chemins ausrichtete. Zur Gruppe der von Uhde so genannten "fünf primitiven Meister" gehörten neben dem älteren Rousseau der Gärtner André Bauchant (1873 - 1958), der Straßenarbeiter Camille Bombois (1883 - 1970), die Haushälterin Séraphine Louis (1864 - 1942) und der Postbote Louis Vivin (1861 - 1936).

Camille Bombois, Sohn eines Binnenschiffers, verdingte sich als Knecht auf dem Bauernhof, als Straßenarbeiter beim Bau der Metro in Paris und als Lastenträger, arbeitete als Ringkämpfer auf dem Jahrmarkt und diente als Soldat im Ersten Weltkrieg. Und er malte - beispielsweise die "Femme assise sur le puits" (1925). (Foto: Camille Bombois/Sammlung Zander © VG Bild-Kunst, Bonn 2022)

Aus heutiger Sicht erscheint der von Uhde gezogenen Rahmen als ziemlich konstruierte Angelegenheit. Denn weder kannten sich die Künstler untereinander, noch gab es ein gemeinsames Manifest oder eine programmatische Ästhetik. Bleibt nur der kleinbürgerliche und proletarische Hintergrund, welcher neben dem Autodidaktentum tatsächlich allen gemeinsam war. Doch ausgerechnet die "geringe Herkunft" wollte Uhde, der selbst Sohn eines preußischen Staatsanwaltes und Enkel eines Pfarrers war, partout nicht als Verbindungsglied gelten lassen.

Aber weil die "Outsider" und die Avantgarde des 20. Jahrhunderts in einer intensiven Beziehung zueinander standen, kann man tatsächlich vom "Schatten der Avantgarde" sprechen - so brachte es der Kurator und Kunsthistoriker Veit Loers einmal auf den Punkt. Rousseau zumindest mag diese untergründigen Zugkräfte, die teilweise bis in die Gegenwart wirken, durchaus gespürt haben. Als der 37 Jahre jüngere Picasso im Jahr 1908 ihm zu Ehren in seinem Atelier ein Fest ausrichtete, brachte Rousseau einen launigen Trinkspruch aus, den man sich bis heute weitererzählt: "Wir sind die zwei größten Maler der Epoche. Sie im ägyptischen Stil und ich im modernen Stil."

Die Schau ist überwältigend großartig und verwirrend

Mit seinem neuerlichen Bezug auf die "Maler des Heiligen Herzens" versammelt der Kurator Udo Kittelmann nun zahlreiche Gemälde von Rousseau, Bauchant, Bombois, Louis und Vivin in einer überwältigend großartigen, verwirrenden wie sinnlich berührenden Malereiausstellung, die sich über alle drei Etagen des Museum Frieder Burda in Baden-Baden erstreckt. Der ehemalige Direktor der Berliner Nationalgalerie zelebriert die französische Jahrhundertwende-Kunst so freudvoll, genüsslich, direkt und theoretisch unbeschwert.

Schade ist vielleicht aber dann doch, dass auch Kittelmann, wie seinerzeit auch Uhde schon, einen Bogen um die Klassenfrage macht. Womöglich wäre in dem Museum, das sich der Museumsstifter Frieder Burda vom New Yorker Architekten Richard Meier in den Neunzigern direkt neben die Staatliche Kunsthalle bauen ließ, ein wenig marxistisch grundierter, zeitgenössischer Ökonomiediskurs und das Sprechen über die bis heute andauernde Macht der "feinen Unterschiede" im Kunstbetrieb zu reizvoll gewesen. Schließlich will Kittelmann seine Ausstellung auch als "programmatisches und dringliches Plädoyer dafür" verstanden wissen, "Künstler und Künstlerinnen, die sich keiner in ihrer Zeit gerade vorherrschenden Kunsttendenz verpflichtet fühlen, der weitgehenden Nichtbeachtung durch die Organe des internationalen Kunstbetriebs zu entreißen".

Doch am Ende waren die Magie und die ästhetische Sogwirkung dieser rund hundert Jahre alten und zugleich so zeitlos wirkenden Bilder, die zum allergrößten Teil aus der bedeutenden, in Köln beheimateten Sammlung der im Jahr 2014 verstorbenen Galeristin und Mäzenin Charlotte Zander stammen, vermutlich doch zu verführerisch. Da sind zum Beispiel die unglaublichen Gemälde von André Bauchant, der der Sohn eines Gärtners und einer Schneiderin war und später selbst die Familiengärtnerei vom Vater übernahm. Als Soldat der französischen Armee verschlug es ihn 1914 nach Griechenland. Von dort kam er mit einem Interesse an antiken Sagen zurück, dass sich auch in seinen fantastischen Erzähl- und Ereignisbildern niederschlägt. "Ihr Werk ist voll von Göttinnen, von Helden und Sirenen, und auch von Gott", schwärmte der Architekt Le Corbusier 1949 anlässlich einer Pariser Bauchant-Ausstellung in einem Brief an den Maler, mit dem ihn eine enge Freundschaft verband.

Gemälde von Camille Bombois wurden 1955 auf der ersten Documenta in Kassel gezeigt. Was mag das Publikum in den Fünfzigern in Kassel wohl angesichts des prallen Lebens auf Bildern wie dem undatierten "Nu au collier" empfunden haben? (Foto: Camille Bombois/Sammlung Zander © VG Bild-Kunst, Bonn 2022)

Le Corbusier besaß nicht nur ein ganzes Konvolut von Bauchant-Gemälden, sondern wurde vom Künstler auch früh als dessen Nachlassverwalter bestimmt. Womöglich schätzte der Architekt, der selbst fotografische Parthenon-Ansichten mit Aufnahmen von Sportlimousinen so kombinierte, dass die Maschine als Tempel und der Tempel als Maschine lesbar wurde, die milchig-pastellfarben durchlichteten antiken Szenen Bauchants mit den charakteristischen Felsformationen wegen ihrer Modernität. Denn den entscheidenden Schub zur Kunst erhielt er während des Ersten Weltkriegs, als er eine Schulung als Militärzeichner absolvierte und sich mit Vermessungstechnik befasste.

Ganz anders hingegen wirken die massiven Pflanzenbilder von Séraphine Louis, deren aktive Schaffensphase von etwa 1915 bis 1931, also lediglich sechzehn Jahre dauerte. Dunkel schimmernde Blätter und Blüten überwuchern unaufhaltsam die Bildfläche auf ihren Gemälden. Louis' Bildwelt speist sich stark aus der christlich-ikonografischen Pflanzensymbolik. 1942 starb Séraphine Louis, die in späten Jahren schwer unter Wahnvorstellungen litt, von der Öffentlichkeit unbeachtet in einer psychiatrischen Anstalt.

Bombois war Knecht, Straßenarbeiter, Lastenträger und Ringkämpfer

Dass die Gemälde von Séraphine Louis, Louis Vivin und Camille Bombois 1955 auf der ersten Documenta in Kassel gezeigt wurden, das wird in Baden-Baden in den biografischen Miniaturen erwähnt, aber leider nicht näher erklärt. Was mag das Publikum in den Fünfzigern in Kassel wohl angesichts des prallen Lebens empfunden haben, das Camille Bombois in Form von Landschaften, Jahrmarktszenen, Porträts und weiblichen Akten auf die Leinwand brachte? Bombois war der Sohn eines Binnenschiffers, verbrachte einen Teil seiner Kindheit auf einem Schleppkahn, verdingte sich als Knecht auf dem Bauernhof, als Straßenarbeiter beim Bau der Metro in Paris und als Lastenträger, arbeitete als Ringkämpfer auf dem Jahrmarkt und diente als Soldat im Ersten Weltkrieg.

Ab den frühen Zwanzigern konnte er von seiner Kunst leben. "Derrière le rideau" - "Hinter dem Vorhang" heißt ein Bild von 1928, das die Rückenansichten einer Tänzerin und eines weiß geschminkten Clowns mit roten Ohren zeigt. Beide beobachten ihr Publikum durch den Spalt eines Vorhangs. Bombois verewigte den kurzen Moment, in dem sich der Blick zwischen Artisten und Publikum umkehrt. Das Gemälde wird so zur Meditation über das Betrachten. Diese Kunst geht weit über den Begriff "Naiv" hinaus.

Die Maler des Heiligen Herzens Bis 20. November im Museum Frieder Burda Baden-Baden. Der Ausstellungskatalog kostet 48 Euro.

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