Filmdrama "Das Ereignis" im Kino:Ungewollt

Lesezeit: 3 min

(Foto: Prokino)

Eine Schwangerschaft, die ein Leben beinahe aus der Bahn wirft: Aus Annie Ernauxs autobiografischem Roman "Das Ereignis" ist ein intensiver Film geworden.

Von Sofia Glasl

Am Anfang sieht man Studentinnen, die sich auf eine Party vorbereiten. Die Kamera kommt ihnen nah, schaut ihnen beim Zurechtmachen zu - bloß nicht "wie Flittchen" aussehen! Dann heftet sie sich an Anne (Anamaria Vartolomei) und begleitet sie auf die Feier. Blicke treffen sie, als sie mit ihrem Kommilitonen Jean an der Bar eine Cola trinkt. Ein Gerücht zu viel, schon ist der Ruf dahin. Die jungen Frauen tanzen unter sich, Flirtversuche werden abgewehrt.

Was wie Koketterie wirkt, ist im Frankreich der Sechzigerjahre eine Überlebensstrategie. Abtreibungen werden bis 1971 illegal sein. Wer fertigstudieren will, darf nicht schwanger werden. Annes Studienkolleginnen tragen ihre Jungfräulichkeit fast wie eine Auszeichnung vor sich her. Die Jungs sehen das als Aufforderung, für sie steht ja nichts auf dem Spiel.

Die Kamera bleibt fortan bei Anne, schaut ihr über die Schulter, sitzt neben ihr, als sie in ihr Tagebuch einträgt, wie lange ihre Periode schon ausbleibt, und als der Arzt ihr mitteilt, dass sie schwanger ist. Die Schwangerschaft ist "Das Ereignis" in dem autobiografischen Roman von Annie Ernaux, den die französische Regisseurin Audrey Diwan nun für das Kino adaptiert hat. Voriges Jahr hat sie dafür den Goldenen Löwen beim Filmfestival von Venedig erhalten.

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Annes Entschluss, das Kind nicht zu behalten, steht früh. Sie ist die erste aus ihrer Familie, die auf die Uni geht. Das kann und will sie nicht zunichtemachen, aber mit ihrer Entscheidung ist sie allein. Von den Ärzten wie von ihren engsten Freundinnen erntet sie nur herablassendes Schweigen.

Unbehaglich vertraut wirkt Diwans zweiter Film, obwohl er 1963 spielt. Anne steht vor einer Wahl, die heute antiquiert wirken sollte, aber in vielen Ländern noch oder sogar wieder aktuell ist. Behält sie das Kind, ist sie zu einem Dasein als Hausfrau verdammt, ihr Traum vom Leben als Schriftstellerin platzt.

Der Begriff "Abtreibung" fällt kein einziges Mal

Lässt sie es abtreiben, riskiert sie eine Gefängnisstrafe oder ihr Leben, wenn der heimliche Eingriff schiefläuft. Sachlich fächert Diwan auf, was sich hinter der abgedroschenen Floskel vom Recht auf Selbstbestimmung verbirgt. Steht die Macht über den eigenen Körper zur Disposition, wackeln auch alle weiteren Möglichkeiten und Ziele.

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"Das Ereignis" ist kein Film der vielen Worte. Der Begriff "Abtreibung" fällt kein einziges Mal, so übermächtig ist das Tabu, dem Anne sich stellen muss. Ungewollte Schwangerschaften sind Frauensache, also versichert sie dem Mann, mit dem sie zusammen war, dass sie sich darum kümmern werde.

Ihrem erbosten Literaturprofessor teilt sie mit, sie habe eine Krankheit gehabt, die nur Frauen bekommen können und die sie zu Hausfrauen macht. Ihr Entschluss, Schriftstellerin zu werden, hat sich jedoch gefestigt. Die Geschichte - ihre Geschichte - drängt aus ihr heraus, muss aufgeschrieben werden, damit sie die Hoheit über ihr Leben zurückgewinnt.

Nüchtern und deshalb so realistisch beschreibt Anne den Grund für ihre zwischenzeitlich schlechten Leistungen an der Uni. Genau diesen Schnitt, den das sprachlich und gesellschaftlich so geschickt umschiffte Ereignis für sie bedeutet, macht Diwan mit ihrem Film nicht nur sichtbar, sondern körperlich regelrecht erfahrbar. Hinterher ist nichts mehr, wie es war.

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:"Es geht um das weibliche Begehren"

Die Regisseurin Audrey Diwan hatte niemand auf dem Schirm. Dann gewann sie mit ihrer Verfilmung von Annie Ernauxs Roman über eine Abtreibung den Goldenen Löwen. Treffen mit einer Frau, der mehr gelungen ist, als die perfekte Umsetzung einer drastischen Erzählung.

Von Susan Vahabzadeh

Die anfänglich facettenreiche Tonebene aus Menschengeplapper, Musik und klirrenden Gläsern verschwindet immer weiter aus Annes Wahrnehmung. Einzelgeräusche vermischen sich mit der immer schneller werdenden Atmung ihrer Panik, die erste körperliche Anzeichen der Schwangerschaft überlagert und ihre Wahrnehmung immer weiter verengt. Ihr Körper wird für sie zur tickenden Zeitbombe, wenn sie nicht schleunigst jemanden findet, der ihr hilft.

Nüchtern und drastisch sind die Bilder der körperlichen Verletzungen

Doch so nah Diwan mit der Kamera an Anne heranrückt, in ihre diffus explodierende Gefühlswelt eindringt, es bleibt jedoch immer eine unbehagliche Distanz, beinahe so, als ob Anne auch der Kamera nicht recht vertrauen würde. Wie sollte es aber auch anders sein, wenn sich selbst ihre Freundinnen von ihr abwenden, weil sie Angst vor rechtlichen Folgen haben? Und ihr Freund Jean die Situation ausnutzt, um sie zu bedrängen: "Na komm schon, du bist doch schon schwanger, es kann nichts passieren." Sie kann sich letztlich nicht einmal dazu überwinden, sich ihrer Mutter anzuvertrauen, die schon stolz herumerzählt, dass die Tochter ihr Studium bald mit Auszeichnung abschließen wird.

Anne ist der Einsamkeit in einer emotionalen wie erzwungenermaßen moralischen Überforderung ausgeliefert, und die Kamera kann letztlich nur noch hilflos zusehen. Nüchtern und deshalb drastisch sind die Bilder der körperlichen Verletzungen, die Anne sich erst selbst mit Stricknadeln zufügt - und später bei einer Frau mit illegaler Abtreibungspraxis, die versucht, eine Fehlgeburt einzuleiten. In diesen Szenen starrt die Kamera regungslos und deshalb ohne Schnitt auf das Geschehen.

Den Schrecken dieser Bilder spürt man tief in der Magengrube, sie hinterlassen eine anhaltende Anspannung. Noch intensiver aber empfindet man die totale Ausgrenzung, die Anne dazu zwingt, selbst Entscheidungen zu treffen, die eigentlich kaum entscheidbar sind. Die zähe Unsicherheit darüber, ob sie die Prozedur überstehen wird und ihr Leben wieder selbstbestimmt in die Hand nehmen kann, überträgt sich körperlich mindestens genauso stark wie die sichtbaren Verletzungen.

L'événement , Frankreich - Regie: Audrey Diwan. Drehbuch: Audrey Diwan, Marcia Romano. Kamera: Laurent Tangy. Mit: Anamaria Vartolomei, Kacey Mottet Klein, Luàna Bajrami. Prokino, 100 Minuten. Kinostart: 31. März 2022.

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