Klavierkonzert in Berlin:Wunderwerk aus Präludien und Fugen

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Der Pianist Alexander Melnikov. (Foto: Julien Mignot)

Alexander Melnikov spielt Schostakowitschs Opus 87 im Berliner Boulez-Saal - und er scheint dazu berufen zu sein.

Von Wolfgang Schreiber

Dmitri Schostakowitschs Kunst und sein Leben in Russland waren akut bedroht, nachdem ihm die von Stalin gelenkte sowjetische Kulturbürokratie 1936 in der Prawda eine Art Todesurteil verpasst hatte: Er verkörpere, stand da in vernichtend massiven Lettern, "Chaos statt Musik". Schostakowitschs Existenz war und blieb erschüttert. Dennoch durfte er 1950 mit einer sowjetischen Delegation nach Leipzig reisen: Das Bruderland DDR feierte Johann Sebastian Bachs 200. Todestag, Schostakowitsch war in die Jury des Bach-Wettbewerbs dort berufen worden.

Tief beeindruckt von der Bachtradition Leipzigs und der Musik des Komponisten Bach kam Schostakowitsch rasch zu dem Entschluss, Bachs berühmtem Zyklus des "Wohltemperierten Klaviers" eine vergleichbare Serie von Präludien und Fugen durch die 24 Dur- und Molltonarten zu realisieren. Mit einer Musik aufzuwarten also, die fern jeder symphonischen Repräsentation und politischen Strahlkraft quasi eingebunden erscheint in der Nische völlig privaten Ausdrucks, wo ja auch Schostakowitschs Streichquartette ihren Glanz entfalten. Russische Pianisten, aber auch der Amerikaner Keith Jarrett, zuletzt Igor Levit, haben sich das Mammutwerk - oder besser: Wunderwerk - dieser Präludien und Fugen angeeignet.

Schostakowitschs Qualen, findet Melnikov, kann man aus dieser Musik heraushören

Wahrscheinlich gibt es heute keinen Pianisten, der berufener wäre als Alexander Melnikov, den in enormer Ideenvielfalt ausgebreiteten Schostakowitsch-Zyklus Opus 87 mehr als nur brillant darzustellen. Dass der 1973 in Moskau geborene, seit langem in Berlin lebende Musiker durch die Nähe zu dem legendären Pianisten Svjatoslav Richter geprägt wurde, glaubt man gleich zu hören, wenn er, wie hier im Berliner Boulez-Saal, die zunächst ruhige C-Dur-Bewegung des ersten Präludiums mit einem heimlichen Beben versieht. Melnikov ist zu einer wahren Parforce-Tour angetreten, denn Schostakowitschs größtes Klavierwerk, diese 24 aufregend listigen und kantenreichen Form-, Charakter- und Ausdrucksstudien, in einem Durchlauf zu stemmen, erfordert allein schon ein Maximum an Kraft für zweieinhalb extrem verdichtete Stunden, notgedrungen mit zwei Pausen. Und Melnikov bewältigte sie nicht nur physisch sowie mit seiner überragenden Tastenvirtuosität, vielmehr in hoher geistiger Präsenz.

Dieser Pianist präsentiert den Erfindungsreichtum von Schostakowitschs beklemmend kühnen Bach-Assoziationen mit einem Höchstmaß an Phantastik der Phrasierung, der Klangabstufung, wobei er die kontrapunktischen Kunststücke der drei- oder vierstimmigen Fugen, Doppelfugen, Spiegelungen und Diminutionen mit musikalischen ,élan vital' auf die Spitze treibt. Und die vorangehenden Präludien mit ihrem melodischen und rhythmischen Übermut charmanter, grotesker oder auch gewalttägiger Couleur macht Alexander Melnikov glasklar fassbar. "Überall in op. 87", notierte er im Booklet seiner CD-Einspielung der Präludien und Fugen des an der Politik leidenden Russen Schostakowitsch, "hören wir die Stimme eines gequälten Mannes, der immer wieder aufs Neue die übermenschliche Kraft findet, dem Leben die Stirn zu bieten . . . mit seiner Wechselhaftigkeit, seinen Widerwärtigkeiten und gelegentlichen Schönheiten."

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