Im November des Jahres 1950 ist es in Rom noch warm, fast spätsommerlich. Beschwingt macht sich Valeria, 43 Jahre alt, Büroangestellte, verheiratete Mutter zweier erwachsener Kinder, zu einem kleinen Sonntagsspaziergang auf. Sie will für ihren Ehemann Michele Zigaretten besorgen, damit er sie gleich nach dem Aufwachen neben seinem Bett vorfindet, für sich selbst kauft sie einen Strauß Ringelblumen.
Ohne dass ihr klar wäre, was sie daran so anzieht, hat sie es im Tabakladen noch auf etwas anderes abgesehen: ein dickes schwarzes Schulheft. Der Tabakhändler aber will es nicht hergeben. "Das geht nicht, das ist verboten", sagt er - sonntags darf er nur Tabak verkaufen, die Polizei kontrolliert streng. Aber Valeria will das Heft unbedingt, und weil gerade niemand sonst im Laden ist, reicht der Mann es ihr über die Theke: "Stecken Sie es unter den Mantel."
So beginnt Valerias Beziehung zu ihrem künftigen Tagebuch mit einem Verbot und einer Heimlichkeit, und wenn es auch nicht die Polizei ist, die ihr verbietet, etwas hineinzuschreiben, fühlt sie sich doch von Anfang an schuldig. Wie denn käme eine rechtschaffene Ehefrau und Mutter dazu, ihre eigenen Erlebnisse, Erfahrungen, Gedanken und Gefühle derart wichtig zu nehmen, dass sie sie aufschreibt? Valeria selbst erscheint das skandalös.
Weil das Gehalt eines Bankangestellten für eine Familie nicht reicht, muss Valeria arbeiten
Damit niemand sie ertappt, schreibt sie nur nachts, panisch versteckt sie das Heft an immer anderen Orten, ihre Familie darf es auf keinen Fall finden. Denn das, was dort nach und nach während der nächsten sechs Monate aufs Papier kommt, würde das Bild der sich hingebungsvoll in Liebe und Fürsorge für ihre Familie verzehrenden Mutter irreparabel zerstören.
Valeria stammt aus einem verarmten venezianischen Adelsgeschlecht, das von einem betrügerischen Vermögensverwalter um seinen Besitz gebracht wurde. Zwar hat das Geld der Familie ihr noch eine erstklassige Ausbildung auf einem Internat und danach ein Studium der Literatur, Musik und Kunstgeschichte ermöglicht. Doch mit Anfang zwanzig heiratet sie, Michele ist im Krieg, während sie mit den beiden Kindern Mirella und Riccardo daheim bleibt.
Weil das Gehalt eines Bankangestellten für eine vierköpfige Familie nicht reicht, muss Valeria, sobald die Kinder größer sind, eine Stelle im Büro annehmen - ein ökonomischer Zwang, keine Befreiungstat. Mittlerweile hat sie daraus eine Vertrauensstellung gemacht, Sohn und Tochter stehen kurz vor ihrem Studienabschluss in Jura. Alles könnte sich also entspannen: Das Geld würde wieder reichen, und die enge Wohnung würde Valeria und Michele allein gehören. Doch natürlich kommt es ganz anders. Und die mitleidlose Schärfe, mit der Alba de Céspedes ins Innerste dieser Familie blickt, macht alsbald dem Mythos vom verehrungswürdigen Wesen der italienischen Mamma den Garaus.
De Céspedes' eigene Geschichte war dies übrigens nicht: 1911 in eine kubanisch-italienische Diplomatenfamilie hineingeboren, war sie als Schriftstellerin im faschistischen Italien schon 1939 gleich mit ihrem ersten Roman angeeckt, weil dessen weibliche Hauptfigur dem Regime unpassend selbständig und freigeistig erschien - womöglich genau deswegen wurde das Buch ein internationaler Bestseller. Während des zweiten Weltkriegs engagierte sich de Céspedes in der Resistenza und führte danach, zum zweiten Mal verheiratet und Mutter eines mittlerweile erwachsenen Sohnes, als Herausgeberin einer Literaturzeitschrift und erfolgreiche Autorin von Drehbüchern und Romanen ein unabhängiges Künstlerinnen-Dasein in Rom, ab 1967 dann in Paris.
Fremder als ihr hätte jemandem das in jeder Hinsicht beengte Dasein ihrer Heldin also kaum sein können - eine gute Voraussetzung für die Scharfsicht, mit der der Roman zeigt, wie in einer Frau aus Liebe Hass wird, wie Fürsorge und Zuwendung in hemmungslose Übergriffigkeit, Kontrolle und Bestrafung umschlagen. Die erwachsene Tochter, auf dem besten Weg, eine tüchtige Anwältin zu werden, trifft sich mit einem älteren Kollegen, der dazu noch verheiratet ist? Das muss unterbunden werden! Valeria lauert Mirella nachts auf, stellt sie zur Rede, ohrfeigt sie und lässt darüber hinaus nichts unversucht, die Liebesbeziehung zu hintertreiben. Mirella hingegen begreift, wie die selbstgewählte Aufopferung ihre Mutter innerlich zerstört hat: "Für dich gibt es nur die Autorität der Familie. Das ist das Einzige, was man dich fraglos zu akzeptieren gelehrt hat, durch Bestrafung und Angst."
"Er hatte schon kratzige Wangen und sagte noch immer: 'Ich will Mama heiraten.'"
Der Sohn wiederum hat es sich in der Rolle des Muttersöhnchens bequem gemacht. "Bis vor Kurzem wollte Riccardo", notiert Valeria, "dass ich mich zum Einschlafen neben ihn lege, ich streichelte sein Haar, sein Gesicht. Er hatte schon kratzige Wangen und sagte noch immer: 'Ich will Mama heiraten.'" Inzwischen bespitzelt, verfolgt und verleumdet Riccardo seine Schwester, schwängert seine puppenäugige Freundin Marina, die er mit dem Etikett "fügsam" belegt hat, und macht bedenkenlos all seine eigenen Berufsaussichten zunichte. Schließlich ist er es auch, der seiner Mutter den letzten konkreten Ausweg aus den Familienverhältnissen verbaut. Während nämlich die lang gehegte Hoffnung ihres Ehemanns, als Drehbuch-Autor zu Ruhm und Geld zu kommen, sich endgültig zerschlägt, hatte Valeria mit ihrem Chef angebändelt, der sie zu einer Liebesreise nach Venedig eingeladen hat - wer weiß, was daraus geworden wäre.
Doch dann heißt es im Tagebuch: "In Wahrheit fühle ich mich weder an meine ehelichen und mütterlichen Pflichten gebunden, noch erscheint es mir lächerlich, mich als werdende Großmutter zu verlieben. Ich habe nur Angst, ein geduldig, aber kleinherzig aufgehäuftes Kapital zu zerstören, einen tückischen Kredit, den die Menschen, für die ich mich aufopfere, nach und nach zurückzahlen müssen." Das ist, von der Feministin Alba de Céspedes in ein plastisches Bild aus der Finanzwirtschaft gebracht, die weibliche Konsequenz aus den Forderungen des Patriarchats: Ich bringe mich für euch selbst zum Verschwinden. Und dafür werdet ihr bis ans Lebensende bezahlen.
1953, als der Roman erschien, konnte solche Klarheit nur schockierend wirken. Fast siebzig Jahre später tut sie das immer noch. Fassungslos sieht man eine Frau im Dauer-Furor agieren, die ihrer eigenen Einschnürung bewusst zustimmt, und weiß: Das Modell ist ja nicht aus der Welt.