Zur Freilassung Ahmet Altans:Das Schweigen der Unterstützer

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Der Schriftsteller Ahmet Altan wagte es, Missstände in Recep Tayyip Erdoğans Türkei zu benennen, wurde dafür verurteilt und jetzt überraschend freigelassen. Warum?

Von Christiane Schlötzer

Vier Jahre und sechs Monate hat der türkische Schriftsteller Ahmet Altan in einem Hochsicherheitsgefängnis verbracht, am Mittwochabend setzten ihn seine Bewacher in ein gelbes Istanbuler Taxi und ließen ihn nach Hause fahren. Wegen der Pandemie verzichtete man auf Polizeibegleitung. Ahmet Altan, 71, ist einer der bekanntesten Romanciers der Türkei. Er war auch Herausgeber der Zeitung Taraf, die nach dem Putschversuch 2016 verboten wurde. Altan schrieb in dieser Rolle feurige Kolumnen und er ließ Texte über eine angebliche Verschwörung im Staat drucken. Später hieß es, die Belege, die Taraf präsentierte, habe die Gülen-Sekte fabriziert, die von Präsident Recep Tayyip Erdoğan für den Putschversuch verantwortlich gemacht wird. Es gab zu jener Zeit einen Machtkampf in den Tiefen des türkischen Staates, wo das Licht der Aufklärung bis heute nur schwach leuchtet. Altan ist zwischen viele Stühle geraten, wie viele andere in seinem Land.

Was ihn auszeichnet, ist sein Mut, auch vor dem Richtertisch zu sagen, was er über den Zustand der Justiz in der Türkei denkt: "Eine Justiz, die schon tot ist oder gerade stirbt, hat einen fauligen Geruch." Altan wird 2018 für drei journalistische Texte und einen Fernsehauftritt zu erschwerter lebenslanger Haft verurteilt. 2019 wird das Urteil von einem Berufungsgericht auf zehn Jahre und sechs Monate reduziert, und wegen der langen Haftzeit wird Altan im November 2019 auf freien Fuß gesetzt. Eine Woche später aber sitzt er schon wieder in seiner Einzelzelle, weil ein Staatsanwalt Widerspruch eingelegt hat. Wird das nun wieder passieren?

Die Isolation, in die sich die Türkei begeben hat, wird teurer: Investoren bleiben weg, die Inflation ist hoch, die Pandemie macht alles noch dramatischer

Die bange Frage wurde nach Altans Freilassung sofort in den sozialen Medien geteilt. In der Türkei ist derzeit alles möglich, aber eine erneute juristische Volte erscheint eher unwahrscheinlich. Erdoğan will gerade ein paar Lichtblitze Richtung Europa senden. Da passt es schlecht, schon wieder ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu ignorieren. Dieser urteilte am vergangenen Dienstag, Altans Freiheitsrechte seien verletzt worden, er fand zudem keine Beweise für die Terrorismus-Vorwürfe. Erdoğan hat schon oft Urteile aus Straßburg ignoriert, prominent ist der Fall des Kulturmäzens Osman Kavala. Aber die Isolation, in die sich die Türkei begeben hat, wird teurer. Investoren bleiben weg, die Inflation ist hoch, die Pandemie macht alles noch dramatischer.

In einem Roman, der im ausgehenden Osmanischen Reich spielt, lässt Altan seine Heldin zu ihrem Sohn sagen: "Hast du endlich aufgehört, dich zu fürchten?" Der Sohn katzbuckelt sich aus Angst vor dem Sultan durchs Leben. Vor Gericht formulierte Altan es so: "Die Angst, die sie verbreiten, ist die Nahrung und das Gift ihrer Macht." Viele Prozesse in der Türkei, Anklagen wegen ein paar Tweets, haben den von Altan genannten Zweck: Angst zu erzeugen. Aber für alle, die lieber den Mund halten, hatte er vor Gericht auch eine Botschaft: "Die wirkliche Gefahr für Erdoğan sind nicht die Stimmen seiner Gegner, sondern das Schweigen seiner Unterstützer." Für sein Gefängnistagebuch "Ich werde die Welt nie wiedersehen" ( S. Fischer, 2018) erhielt Altan 2019 den Münchner Geschwister-Scholl-Preis. Er soll in der Haft auch noch einen Roman geschrieben haben. Man darf gespannt sein.

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