Brexit-Kolumne "Affentheater":Taumeln über der Themse

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Dass London mehrheitlich gegen den Brexit gestimmt hat, lag auch an Boris Johnson - die Zeit mit dem radelnden Bürgermeister werden die Londoner nicht so schnell vergessen.

Kolumne von A. L. Kennedy

In glücklicheren Tagen hätten wir Briten uns womöglich gefreut, dass wir uns bald ausdrücklich gegen eine Organspende erklären und nicht mehr aktiv einwilligen müssen, sollten wir das Glück haben, innerlich gut erhalten zu sterben. In Großbritannien herrscht Mangel an passenden Organen für Transplantationen, jährlich sterben Hunderte Menschen, die auf Wartelisten stehen. Und jetzt sollen wir womöglich einen Organsegen erleben, wo uns doch weiterhin Pfleger, Ärztinnen und Krankenhäuser fehlen?

Unsere Regierung ist notorisch gut darin, Versprechungen und Zahlen zu veröffentlichen, aus denen hervorgeht, dass wir schon bald genug Pfleger usw. haben werden, aber allen ist klar, dass es außerhalb von Schottland, wo man diese Dinge anders handhabt, nur bei Versprechungen und Zahlen bleiben wird. (Guter Zeitpunkt angesichts der bevorstehenden Grippepandemie.)

Wer sich den NHS nicht leisten kann, ist offensichtlich so arm, dass er keine Rolle spielt

Obwohl einige von uns über Jahrzehnte im Voraus für seine Dienste bezahlt haben, wird der NHS, unsere öffentliche Gesundheitsversorgung, weiter abgebaut. Der Brexit verbrennt weiterhin potenziell brauchbare Millionensummen und treibt uns damit zügig in die Arme privater Krankenversicherer, vor allem aus den USA. Wer von uns es sich nicht leisten kann, noch einmal für medizinische Versorgung zu bezahlen, ist offensichtlich so arm, dass er oder sie keine Rolle spielt; dank des Brexits können unsere Menschenrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit bald als die lästige Unannehmlichkeit abgetan werden, die sie schon immer waren.

Was genau soll also in Ermangelung funktionierender OPs und ausgebildeten Personals mit unseren gespendeten Organen geschehen? Sollen damit die nach dem Brexit zu erwartenden Fleischengpässe abgemildert werden? Sollen sie in Lastwagen vergammeln? (Der Mythos des postapokalyptisch reibungslos weiterlaufenden Handels hat sich letzte Woche endgültig aufgelöst wie ein Wollpullover im Mähdrescher.) Kurz gesagt, das Schicksal unseres Innenlebens ist wie unsere Zukunft allgemein grauenhaft unbestimmt. Oder unbestimmt grauenhaft.

Inzwischen stellt unser Premierminister Popo der Killerclown unter Beweis, dass er keine Ideen hat. Wieder mal. Seine "brillante" Strategie des Online-Wahlkampfs stammte von den internationalen Trollfabriken der extremen Rechten, die sich wiederum jahrzehntealter KGB-Taktiken bedienten. London leckt immer noch die Wunden, die seine Versuche hinterlassen haben, sich als Bürgermeister zu betätigen und ohne Aufsicht und Lenkung selbst zu denken. Dass London mehrheitlich gegen den Brexit gestimmt hat, lag zum Teil daran, dass Popo dafür war. (Nachdem er zunächst dagegen war.)

Unter Bürgermeister Popo wurde London zur weltweiten Hauptstadt für Geldwäsche

Bürgermeister Popo war berüchtigt für seine improvisierten Erklärungen, wobei er die Ausführung seiner oft bizarren Pläne den bemitleidenswert überlasteten Mitarbeitern überließ. Da hat sich nichts geändert. Seine Freundin zu seiner Zeit als Bürgermeister, Jennifer Arcuri, kam in bemerkenswerte - und womöglich illegale - Nähe der Finanzplanung und Verwaltungsakte der Stadt London. Popos Freundin seit er Premierminister ist, Carrie Symonds, sucht ihm anscheinend die Regierungsmitarbeiter aus. (Das könnte allerdings auch ein Gerücht sein, böswillig gestreut von seinem wichtigsten nicht gewählten Berater und zornigen sowjetischen Echsen-Ei, Dominic Cummings.)

Popo lässt sich gern radelnd fotografieren, auch wenn ihm offensichtlich die körperliche Fitness fürs Radfahren fehlt. Vielleicht hat er erkannt, dass Faschisten auf Fahrrädern weniger faschistisch aussehen. Bürgermeister Popo hatte sich ein schlecht geplantes Konzept mit langsamen Leihrädern ausgedacht - gut geeignet, Touristen umzubringen - und Fahrradspuren, die ihre Benutzer häufig an den gefährlichsten Stellen im Stich lassen.

Er hat das Straßennetz der Stadt, das bei seinem Amtsantritt bereits kurz vor dem Kollaps stand, in eine höllische Staulandschaft verwandelt, mit grenzwertüberschreitender Luftverschmutzung, ungenügend reglementierten Gelegenheitstaxis und so unpraktischen, seekrank machenden neuen Bussen, dass sie wieder außer Dienst gestellt werden mussten. Aber vielleicht sollte man das alles als aufregende neue Gelegenheit zur Organernte verstehen? Außerdem hat er zig Millionen Pfund für eine Themsebrücke rausgeworfen, die nie gebaut wurde. Premierminister Popo hat ganz "neue" Pläne für Räder, Busse und eine Brücke, die zweifellos wieder Millionen verschlingen wird, bevor sie niemals Nordirland erreicht. Während Popos sinnlose Seilbahnen immer noch über die Themse taumeln, hat seine Regierung einer immens teuren Hochgeschwindigkeitsbahnstrecke zugestimmt, die einige der letzten alten Wälder Englands zerstören wird, nur damit Birmingham zwanzig Minuten schneller erreicht wird. Derweil stolpert das gesamte Bahnsystem von einer Störung in die nächste, und ganze Regionen sind vom Schienenverkehr abgeschnitten.

Die Pläne für neue Freihäfen, mit denen kriminelle Unternehmungen und reibungsloser Schmuggel erleichtert werden, erinnern uns an Popos mafiöse Referenzen: Unter Bürgermeister Popo wurde London zur weltweiten Hauptstadt für Geldwäsche.

Leere Millionärsimmobilien wachsen weiter unter großen ökologischen Kosten in die Höhe und waschen still und leise schmutziges Geld, während echte Menschen mit echten Jobs anderswo leben müssen. In Popos London flogen Geschäftsleute, die den russischen Status quo in Zweifel zogen, gern einmal mit unangenehmen Folgen aus dem Fenster, ohne dass die Polizei hinterher unnötig neugierige Nachforschungen anstellte.

Ziel des Brexit war es immer, Großbritannien in ein Piratenreich zu verwandeln, wo sich schädlicher Einfluss ohne alle Hemmnisse entfalten kann. Was auch erklärt, wieso Popo den Bericht über russische Einflussnahme im Vereinigten Königreich nicht so bald veröffentlichen wird.

Aus dem Englischen von Ingo Herzke.

© SZ vom 18.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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